Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
aber nicht lange genug geschlafen hatte, war benommen. Wir wollten ihr das Frühstück schmackhaft machen, aber sie reagierte nicht. Das Radio berichtete weiter: von afrikanischen Kleinkriegen, Großbritanniens möglichem EU-Austritt, Thatchers und Reagans atomarem Flirt. Ottilia verschwand im Bad.
»Pass gut auf sie auf«, sagte Leo. Wir hielten Ausschau nach Maneas Auto. »Schwer zu sagen, wie sie reagiert. Einerseits möchte ich, dass Petre zu den Toten gehört, damit wir die Sache abschließen können. Andererseits fürchte ich mich davor.«
»Und wie reagiere ich darauf?«, fragte ich. »Was ist mit uns, wenn er wirklich erschossen wurde?«
»Hier geht es weder um Schuld noch um dich. Sondern um Ottilia und ihre Reaktion. Hier geht es um Gewissheit oder Ungewissheit.«
Ottilia kam gewaschen, angezogen und gefasster aus dem Bad. Sie hatte Lippenstift und Mascara benutzt, die Cilea vergessen hatte, trug Sandalen und ihre einzige Jeans und hatte eines meiner Hemden um die Taille geknotet. Sie schien zu glauben, dass sie den Schmerz, der sie vielleicht erwartete, lindern konnte, indem sie eine neue Persönlichkeit annahm.
»Fertig«, verkündete sie, aufrecht und breitbeinig, bereit, allem ins Gesicht zu sehen. Sie gab Leo einen Kuss, ergriff meine Hand und führte mich nach unten, tief in sich selbst versunken. Am Kiosk reckte uns Herr Scînteia beide Daumen entgegen.
Wir wurden von demselben jungen Mann abgeholt, der mich neulich gefahren hatte. »Guten Morgen, Sir.« Und zu Ottilia: »Buna ziua, Tovarășa.« Er war so gepflegt, höflich und entspannt wie beim letzten Mal, und er wusste offenbar über Ottilia Bescheid, denn er war freundlich und aufmerksam, was sie stärker zu irritieren schien als die von ihr erwartete Grobheit. Sie zuckte zusammen, als er ihr beim Einsteigen helfen wollte. Seine Entschuldigung klang echt. Manea, der weite Teile des Unterdrückungsapparates beherrschte, stellte erstaunlich kluge, menschliche und mitfühlende Leute ein. Im Auto schwiegen wir. Ottilia hielt meine Hand. Ich legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie schmiegte sich enger an mich.
Ottilia sah sich auf dem Weg durch den Innenhof des Ministeriums um, verglich die Realität mit den Mythen, die sie im Laufe der Jahre gehört hatte. In den letzten Wochen hatte sie die sagenumwobenen Läden besucht und jene Privilegien kennengelernt, die der engere Kreis der Partei, eine Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft, genoss. Und sie würde gleich einen Minister treffen, um zu erfahren, ob ihr Bruder tot war.
Im Gegensatz zu anderen Parteigranden ließ Manea seine Besucher nicht warten, um sie einzuschüchtern oder ihr Anliegen zu behindern. Er gab mir die Hand und stellte sich Ottilia vor, herzlich und ohne Arroganz. In diesem Moment wusste ich, dass er konkrete Informationen hatte. Während ich außer Hörweite vor dem großen Fenster wartete und die beiden beobachtete, gewann ich den Eindruck, dass er sie wie eine trauernde Angehörige behandelte – Ottilia sah ihm ins Gesicht, doch er wandte beim Reden den Blick ab.
»Ich möchte, dass Sie dabei sind. Sie sollen es mit eigenen Augen sehen, um sicherzustellen, dass ich mich nicht irre.« Ottilia holte mich, ergriff meine Hand. Ich konnte Manea ansehen, dass er glaubte, ich hätte seine Tochter für Ottilia verlassen.
»Ich bin als ein Freund Ottilias hier«, sagte ich, um die Sache klarzustellen. »Ich möchte ihr helfen, Gewissheit über ihren Bruder zu erlangen. Mehr habe ich mit dieser Angelegenheit nicht zu tun.«
»Mehr nicht? Ganz sicher?« Manea klang amüsiert. Dann sagte er sachlich: »Stromabwärts des Eisernen Tors, nicht weit von einem Grenzposten, wurden zwei Leichen entdeckt. Sie wurden in ein Leichenschauhaus gebracht und umgehend eingeäschert. Man hat zwar keine Autopsie vorgenommen, denn dazu gab es keinen Anlass, aber zum Glück – wenn ich das so sagen darf – wurden sie fotografiert. Ich habe mir die Bilder schicken lassen, was nicht ganz einfach war. Sie werden feststellen, dass die Verletzungen, die zum Tod geführt haben, deutlich sichtbar sind. Darauf sollten Sie sich gefasst machen.«
»Ich arbeite seit fünf Jahren beim Volksgesundheitsdienst als Ärztin, Genosse. Mich kann so leicht nichts erschüttern.«
Manea lächelte. Seine Sekretärin kam mit einem braunen Umschlag herein. Er war so dünn, dass mir Böses schwante. Welche Geschichte diese Fotos auch erzählen mochten, sie erzählten sie rasch und unmissverständlich.
Es
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