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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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ich das erleben möchte – auf diese Art.«
    Die Unwissenheit hatte ihre Vorzüge, und für mich war sie immer von Vorteil gewesen: Ich wusste nichts über Cilea und nichts über Belanger, und ich wusste nur zur Hälfte über Leos Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt Bescheid. Aber wir hatten seit zwei Monaten nichts mehr von Petre und Vintul gehört.
    »Morgen früh kommt jemand, um Sie und die junge Frau abzuholen.« Manea war am Telefon förmlich und kurz angebunden. Er hatte schnell reagiert – ich hatte eine Nachricht auf Cileas Anrufbeantworter gesprochen, die sie allem Anschein nach weitergeleitet hatte. Es tröstete mich ein wenig, dass sie meine Nachrichten trotz allem noch abhörte. »Um acht Uhr. Seien Sie bereit«, sagte er.
    In dieser Nacht schlief niemand. Leo lag auf dem Sofa und gab vor, zu betrunken für die Heimfahrt zu sein, ein bis dato einzigartiges Eingeständnis. Im Fernseher, dessen blaues Licht auf den Wänden flackerte, lief ein Video ohne Ton. Ottilia ging früh zu Bett, ließ das Licht aber an. Ich döste, las, lief hin und her, trat auf den Balkon, lauschte den Aufbau- und Abrissgeräuschen, die unsere Nächte begleiteten. Schließlich glomm am Himmel ein rötlich gelbes Licht auf. Das Errichten und Zerstören von Gebäuden war hier so allgegenwärtig wie Atem, Herzschlag und Puls, die den Körper am Leben erhielten und immer weiter auf den Tod zutrieben. Der Lärm war selbst an den ruhigsten Tagen, den trägsten Nachmittagen am Wochenende zu hören. Er verfolgte mich bis in den Schlaf, und wenn er, was sehr selten geschah, einmal verstummte, hallte er in meinem Kopf nach. Er war ein Teil meiner selbst geworden.
    Ich war um fünf Uhr auf den Beinen. Leo schlief fest vor dem Testbild des Fernsehers. Ottilia lag vollständig bekleidet und wie niedergestreckt auf dem Bett, tief im Schlummer des Vergessens versunken. Sie schnarchte leise. Ein Auge war halb geöffnet, das Lid des anderen zuckte, als würde im Inneren ihres abgeschalteten Körpers noch ein Kurzschluss knistern. Ich beugte mich über sie und schloss das Auge, blieb stehen, um ihr über das Haar zu streichen. Ihre offene Sporttasche lag auf dem Boden, die paar Habseligkeiten hatte sie ausgepackt: ein Foto ihrer Eltern vor einem alten Haus, dem die Aura des Vergangenen anhaftete – ich wusste sofort, dass es nicht mehr stand. Ein Foto von Petre in Lederjacke und Jeans, mit Zigarette und seinem lebenshungrigen Lächeln. Ein Rock hing am Kleiderhaken, neben ihren Arbeitsschuhen lag eine zusammengefaltete Jeans. Der Wecker auf der Fensterbank maß die Zeit mit einem schabenden Geräusch, zermahlte die Minuten zu Staub.
    Draußen wurde der Zeitungskiosk mit einem hohlen Klappern geöffnet. Auf der Markise prangte in leuchtenden Lettern der neue Slogan der Scînteia : »Eine Nation, eine Zeitung«. Als ich eine kaufte, zeigte der Verkäufer auf den Schriftzug.
    »Sie haben vergessen, ›ein Leser‹ hinzuzufügen«, sagte er sarkastisch und kostete dann von dem Kaffee, den ich ihm mitgebracht hatte. Er war ein wortkarger Mann, und sein einziger Scherz war einer von der Sorte, die durch Wiederholung immer besser werden: Wenn ich morgens ging, winkte er mir mit einer Fahne aus Lotterielosen zu und rief: »Zählst du dich zu den Glücklichen, Tovarășul ?«
    Ich hörte, wie das Wasser im Bad gegen die Wände, auf den Fußboden und wahrscheinlich auch auf die Lichtschalter prasselte, dann das langgezogene Räuspern Leos, der seinen Auswurf in die Kloschüssel spuckte.
    »Was mag euch bevorstehen, nachdem euch Constantins Jungs abgeholt haben?«, fragte er.
    »Hast du mir nicht zugehört? Er hat darum gebeten, dass wir uns bereithalten, und ich habe eingewilligt. Davon abgesehen weiß ich so wenig wie du.«
    »Tja, du bist hier derjenige mit den Freunden in hohen Positionen.«
    »Das sagst ausgerechnet du? Ich kenne nur diesen einen Mann, und ich würde ihn nicht als Freund bezeichnen.«
    »Du irrst dich – ich habe vielleicht sehr viele Freunde, aber sie stehen in der Hierarchie meist tief unten. Ich finde das wesentlich hilfreicher.«
    Leo schaltete das Langwellenradio ein, drückte sein Ohr wie ein Safeknacker gegen den Kasten. Begriffe wie Perestroika und Glasnost waren bereits in den englischen Wortschatz eingegangen, und dem Einfluss der samtenen Revolutionen in Osteuropa konnte sich kaum jemand entziehen – Polen, Ungarn, Tschechoslowakei –, aber hier in Rumänien schien all das Welten entfernt zu sein.
    Ottilia, die zwar tief,

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