Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
niemand tun. Dies ist das Ende der Geschichte – man wird Unterlagen und Fotos vernichten oder an einem geheimen Ort verwahren. Offiziell ist all dies nie geschehen, diese Toten gibt es nicht, und wir …«, er schwenkte eine Hand, »… haben nie über sie gesprochen.«
Ottilia hakte noch einmal nach. »Der aufgerissene Bauch …«
»Ich fürchte, manche Sicherheitsmaßnahmen sind barbarisch. Man bezeichnet sie als ›Abschreckung‹, aber wie sollen sie abschrecken, wenn man sie geheim hält? Das Flussbett wurde streckenweise mit Klingendraht, Metallspießen und großen, in Industrieanlagen gebräuchlichen Sägeblättern gesichert. Das ist bedauerlich, und ich will das nicht schönreden. Aber diese Maßnahmen sind sogar innerhalb der dafür zuständigen Behörden umstritten.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Meiner Auffassung nach ist es staatlicher Mord«, erwiderte Ottilia nur. Hinter uns verstummte das Tippen.
»›Staatlicher Mord‹ ist in reaktionären Kreisen ein beliebtes Modewort. Aber vergessen Sie nicht, dass jeder, der die Grenze illegal zu überschreiten versucht, gegen das Gesetz verstößt. Und das birgt gewisse Risiken.« Manea gab die parteiinterne Sprachregelung ohne tiefere Überzeugung wieder. Dann hellte sich seine Miene auf, und was er als nächstes sagte, war so verblüffend, dass ich glaubte, mich verhört zu haben: »Meinen Sie nicht auch, dass es abschreckender wäre, wenn man die Öffentlichkeit über diese Sicherheitsmaßnahmen informieren würde?«
Sowohl Ottilia als auch ich wussten sofort, was er bezweckte – er forderte uns auf, genau das zu tun.
Manea sah auf die Uhr. Es war fast neun. Unser Treffen hatte eine knappe Stunde gedauert. »Ich bin zum Frühstück verabredet. Bitte entschuldigen Sie mich. Andrei wird Sie mit dem Auto zurückbringen. Cinzia fährt mit, sie möchte noch ein paar Einkäufe erledigen.« Cinzia, die Sekretärin, machte sich hinter uns fertig. Selbst in der eintönigen Uniform des Sekretärinnenkorps sah sie blendend aus. Vor Maneas Büro warteten mehrere übergewichtige, schmierige, schlecht gekleidete Funktionäre. Ein jeder saß für sich allein, vermied es, die anderen anzuschauen: regionale Parteisekretäre, stellvertretende Minister, Provinzbosse, die alle im gleichen Maße Angst zu verbreiten und zu empfinden schienen. Ein weiterer Gleichschaltungsmechanismus des Systems.
Cinzia plauderte auf der Rückfahrt mit Ottilia. Ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf und merkte, dass sie einander von früher kannten. Cinzia erkundigte sich nach Petre, und Ottilia, sonst so vorsichtig und zurückhaltend, beantwortete bereitwillig alle Fragen. Als das Auto hielt, tauschten sie Telefonnummern aus, oder besser: Cinzia nannte ihre Nummer im Tausch gegen Ottilias Adresse. In diesem Land hatte nur jeder dreihundertste Einwohner ein Telefon. Ottilia gab meine Adresse an.
»Wir sind gemeinsam zur Schule gegangen«, erklärte Ottilia, als wir aus dem Auto stiegen. »Wir waren befreundet. Nicht eng, aber doch befreundet. Schon komisch – da begegnet man sich nach zehn Jahren wieder, und die eine arbeitet als Ärztin in einem staatlichen Krankenhaus, die andere ist die Geliebte eines Ministers. Sie war ein intelligentes Mädchen. Sie hätte alles Mögliche tun können.«
»Das erklärt wohl, warum sie die Geliebte eines Ministers geworden ist.«
Ottilia legte lächelnd einen Arm um mich. Obwohl wir auf unserer Suche nach Petre und Vintul keinen Schritt weitergekommen waren, erfüllte uns die Gewissheit, dass sie nicht tot waren, mit einer seltsamen Euphorie. Die Tode der zwei jungen Männer waren zwar grausam und überflüssig gewesen, aber man hatte sie nicht ermordet – außer in dem von Ottilia erwähnten juristischen Sinn. Ich freute mich für sie und war zugleich erleichtert, nicht mit der Angelegenheit in Verbindung gebracht worden zu sein. Ich war vorerst aus dem Schneider.
»Manea scheint eine weiße Weste zu haben. Aber ich finde es seltsam, dass er bereit ist, uns zu helfen«, sagte Leo, nachdem wir ihm von der Begegnung berichtet hatten.
»Ich hatte das Gefühl, dass es ihm nicht nur darum ging, uns zu helfen«, sagte ich. »Er schien uns nahezulegen, mit den Familien der Toten in Kontakt zu treten und uns Fotos der Grenzanlagen zu besorgen. Ich glaube, er war ehrlich.«
»Stoicu ist sowohl für die Grenzsicherung als auch für den Schießbefehl verantwortlich«, rief Leo uns ins Gedächtnis. »Manea und Stoicu hassen einander bis aufs
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