Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
so stark, dass er beim Gehen einem aus Wackelpudding bestehenden Roboter glich. Er war schon seit Jahren chronisch erschöpft. Wintersmith war jetzt Erster Sekretär im Amt.
Leo war immer länger vielerorts im Land unterwegs, um die Zerstörung zu fotografieren und zu dokumentieren. Unterstützt von seinen Auslandskontakten, entwickelte er ein Konzept, das die Patenschaft westeuropäischer Gemeinden für rumänische, zur »Modernisierung« bestimmte Dörfer vorsah. Die Aktion »SOS rumänische Dörfer« fand ein breites Echo. Anfang September waren schon vierzig Dörfer »adoptiert« worden; im Westen schrieben Bürgermeister, Lokalpolitiker, Schüler und Heimatvereine Leserbriefe an Zeitungen, um auf das Schicksal ihrer rumänischen Patengemeinden aufmerksam zu machen.
Leo hatte die Verantwortung für den Schwarzmarkthandel an den Leutnant und einen polnischen Juniordiplomaten übergeben, den er »Azubi« nannte. Niemand wusste, wo Leo steckte. Ich musste das Schild an seiner Tür – »Bin gleich wieder da« – zweimal auswechseln, weil es von Studenten beschmiert worden war. Danach schweißte ich es ein und wischte die Kritzeleien alle paar Tage ab. Leo ließ seine Vorlesungen ausfallen, schwänzte die Sitzungen, schrieb keine Berichte. Unter Popeas Leitung herrschte im Seminar bald die gedrückte Stimmung eines Leichenschauhauses. Sogar der Zugwind war abgeflaut. Als ich Popea zum ersten Mal in Ionescus ehemaligem Büro aufsuchte, hatte man den Schreibtisch im kahlen Zimmer in jene Ecke gestellt, von der aus sowohl Tür als auch Fenster eingesehen werden konnten. Der Schreibtischstuhl stand so tief wie möglich in der Ecke – das Fengshui der Paranoia.
Ich rief wiederholt bei Cilea an, aber sie war entweder unterwegs oder nahm nicht ab. Ich wartete vor dem Tor, das zu ihrer Straße führte, weil die Wachen mich nicht einließen, und versuchte, einen Blick durch die getönten Scheiben der ankommenden und abfahrenden schwarzen Autos zu werfen. Eines späten Abends, ich hatte Cilea zum wiederholten Mal vergeblich aufgelauert, trat mir Titanu in den Weg. Er schaute mich an, sah zu Cileas Fenster, schüttelte den Kopf. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie ein Wort aus seinem Mund vernommen hatte. Er hatte selbst dann geschwiegen, wenn er, während wir es miteinander getrieben hatten, vor Theaterlogen, Hotelzimmern oder vor dem Dacia Wache geschoben hatte. Er wollte mich warnen, und für seine Verhältnisse tat er das freundlich. Ich nickte und wollte gehen. Als er mich vorbeiließ, klopfte er mir auf die Schulter, eine Geste, die so unerwartet kam und von einer so verhaltenen Güte zeugte, dass ich nach einigen Metern in einer dunklen Ecke Zuflucht suchte, die Hände vor das Gesicht schlug und weinte.
Ottilia bewohnte bei mir inzwischen ein eigenes Zimmer. Man hatte ihr zwei neue Mitbewohner zugeteilt, und sie fühlte sich zu Hause nicht mehr sicher. Einer war ein Spitzel, der andere ein Lustmolch, der sie gleich nach dem Einzug angebaggert hatte. Sie rief uns an, und als wir sie abholten, hatte sie nur eine knitterige, schlaffe Sporttasche und zwei gerahmte Fotos dabei. »Wir holen den Rest morgen früh«, sagte ich. »Es gibt keinen Rest«, erwiderte sie.
An den Wochenenden spazierte ich mit Ottilia durch die Parks. Danach ging ich zu Trofim, und manchmal begleitete sie mich. Sie war anfangs argwöhnisch gegenüber dem Ex-Parteioberen, der in einer teuren Wohnung zwischen vielen kapitalistischen Luxusgütern lebte, die er im Laufe jener Jahre angehäuft hatte, in denen er seinen Mitbürgern die kommunistische Mangelwirtschaft aufgezwungen hatte. In ihren Augen war er für den Zustand dieser Gesellschaft mitverantwortlich. Trotzdem wurden sie Freunde. Beide hatten die Gabe, wortlos Gedanken und Gefühle auszutauschen. Sie hakte sich bei ihm unter, wenn die beiden ohne mich spazieren gingen oder Museen besuchten; er hob Ausgaben medizinischer Zeitschriften auf und abonnierte The Lancet für sie.
Mitte September war Trofims Manuskript druckfertig. Wir standen auf seinem Balkon, betrachteten den Sonnenuntergang, spürten den Herbst, der sich unaufhaltsam näherte. Wir stießen mit Champagner aus der belgischen Botschaft auf den Abschluss seiner Memoiren an, feierten die dreihundert getippten Seiten. Trofim hatte mit Ottilia die Fotos ausgesucht: Trofim als Kind mit seinem Vater, dem Rabbi, und seinen zwei Schwestern; seine junge Frau; Trofim bei Parteisitzungen, linientreu, mit Anzug und Krawatte. Der junge
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