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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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waren drei Fotos. Das erste zeigte zwei aufgedunsene graue Leichen auf einem schlammigen Flussufer, umgeben von Müll: Plastiktüten, Farbdosen, schwärzliches Styropor. Man hatte die Leichen nebeneinandergelegt, aber ihre Gesichter waren wegen des Drecks und der abgelösten Haut nicht zu erkennen. Einer trug einen Mantel oder eine Jacke mit offenem Reißverschluss, sein Gesicht war hinter etwas Dunklem verborgen. Auf dem nächsten Foto konnte man das Gesicht erkennen: kurze Haare, offene Augen voller Schlamm. Es handelte sich weder um Petre noch um Vintul, aber bei genauerem Hinsehen erkannte ich einen der jungen, großspurigen, mir unbekannten Männer. Ich hatte noch im Ohr, wie er keuchend Luft geholt hatte, als er in das kalte Wasser gewatet war. Das war vermutlich einer seiner letzten Atemzüge gewesen.
    Auf dem nächsten Foto waren die Leichen sauberer. Man hatte sie für die Identifizierung gereinigt, nicht aus Pietät. Hinter ihren Köpfen stand ein Wassereimer, ihre Haare waren nass und wie gescheitelt. Was ich zunächst für einen offenen Reißverschluss gehalten hatte, waren, wie sich nun zeigte, die Wundränder eines tiefen, vom Schlüsselbein bis zum Bauchnabel reichenden Schnitts. Die Rippen ragten heraus, wulstige und blutige Fleischlappen säumten eine mit Schlamm und Schmutz gefüllte Kluft. Auf diesem Foto war die Haut des Toten mondscheinbleich. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war von Fischen oder anderen Tieren zerfressen worden. Dies war der zweite junge Mann. Was war mit Mel passiert, was mit den anderen beiden Flüchtlingen? Petre und Vintul, die es vielleicht gewusst hätten, blieben verschwunden. Ein Rätsel war gelöst: Dies waren nicht ihre Leichname. Aber das brachte uns einer Antwort nicht näher.
    Das dritte Foto zeigte die beiden Gesichter nebeneinander auf einem Tisch im Leichenschauhaus. Mein Blick blieb an der Oberfläche der Tischplatte hängen: rissiger Beton voller Löcher, von Ausscheidungen verfärbt. Neben einem der Köpfe balancierte eine brennende Zigarette auf der Kante. Man hatte die Gesichter der jungen Männer gewaschen und eine Blitzlichtaufnahme gemacht. Ihre matte Haut hatte das grelle Magnesiumlicht absorbiert, das von allen anderen Gegenständen zurückgeworfen wurde – Tischplatte, Schere, Skalpell, Nierenschale, Reagenzgläser.
    Ich bildete mir ein, Ottilia vor diesen Fotos beschützen zu müssen, obwohl es mir in Wahrheit um mich selbst ging. Sie war solche Anblicke gewöhnt, mir aber wurde schlecht. Die Gewaltsamkeit dieser Bilder, eine Gewaltsamkeit, die von der Ausdruckslosigkeit und Starre des Todes nicht vertuscht werden konnte, erschütterte mich. Ottilia sah Manea an und schüttelte den Kopf. Sobald sie mit Sicherheit wusste, dass es sich nicht um Petre handelte, schluckte sie ihre Erleichterung hinunter und wurde zur Ärztin, die zum wiederholten Mal im Buch des Todes las.
    »Aufgedunsene Körper, abgelöste Haut … Die zwei Männer sind ertrunken. Darauf deutet alles hin.« Sie zeigte auf die versehrte Leiche. »Das ist allerdings weniger eindeutig. Sieht aus, als wäre sein Brustkorb aufgeschlitzt worden. Ein tiefer, breiter Schnitt. Der Mann muss von einer starken Strömung über irgendetwas Scharfes gerissen worden sein. Noch etwas tiefer, und seine Eingeweide würden bloßliegen. Er hat noch gelebt, als es geschah. Aber nicht mehr lange. Rascher und starker Blutverlust. Schusswunden sind nicht zu erkennen.« Sie schob die Fotos beiseite. »Aber ich bin nicht gekommen, um Ihnen bei der Feststellung der Todesursache zu helfen.« Sie lächelte so ironisch wie bei unserer ersten Begegnung im Krankenhaus.
    »Ja, wir sind zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt«, sagte Manea. »Ich bin erleichtert, dass Ihr Bruder nicht unter den Toten ist. Haben Sie eine Ahnung, um wen es sich handeln könnte?«
    »Nein«, antwortete Ottilia, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie konnte es tatsächlich nicht wissen; Petre hatte diese Seite seines Lebens vor ihr geheim gehalten. Ich würde ihr später auf den Zahn fühlen.
    »Und Sie?«, fragte Manea mich.
    »Nein. Keine Ahnung.« Nun war es an Ottilia, über den Wahrheitsgehalt meiner Antwort zu befinden. Ich hatte dazugelernt: Wenn man lügen musste, dann am besten in kurzen, schlichten, entschiedenen Sätzen.
    »Das dachte ich mir schon«, sagte Manea müde. »So viel zum quid pro quo . Hätten Sie etwas gewusst, hätte ich Sie nur gebeten, die nächsten Angehörigen zu unterrichten. Denn das wird

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