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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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aus, glaubte unbeirrbar fest an die gerechte Sache, die für ihn über jedes rationale Argument erhaben war. Ich hatte mich geirrt: Er war kein Dissident, sondern Fundamentalist – ein pragmatischer, aber überzeugter Fundamentalist, der das Scheitern des Ideals auf die falsche Anwendung desselben zurückführte und glaubte, dass die Grausamkeit diesem System nicht inhärent war, sondern lediglich eine Abweichung darstellte.
    »Spitzfindigkeiten«, sagte Leo später. »Oder besser: höherer Blödsinn. Trofim weiß genau, dass man ihn im Falle einer Revolution aufknüpfen würde. Nicht gleich als ersten, aber irgendwann wäre er dran.«
    »Meinst du wirklich? Er weiß offenbar, dass ihm nichts mehr bleibt, wenn er die Überzeugungen, an denen er hartnäckig festgehalten hat, fahrenlässt. Er hat keine Angehörigen, und die Partei war sein Leben. Er hat nur noch das Hier und Jetzt. Er macht sich keine Sorgen um sich selbst, sondern um die Ideale, für die er gekämpft hat.«
    »Hmmm … Die Kommunisten haben Gott abgeschafft, aber die Theologie haben sie behalten. Sie wussten genau, dass sie ihnen nützlich wäre, sobald sie die Oberhand bekämen. Gott hat immerhin eine Ausrede für den Mist, den er baut – er existiert nicht. Ganz im Gegensatz zu diesen Scheißkerlen …«
    »Ja, kann sein. Aber ich bin mir sicher, dass er sich auch selbst schützen will. Gegen den Vorwurf, ein Dissident zu sein, kann man sich am besten verteidigen, indem man seine Treue zur Partei erklärt – nicht indem man sie angreift.«
    Leo richtete sich auf und dachte nach. »Vielleicht hat er noch einen Plan in der Hinterhand.«
    »Und was sollte er planen?«
    »Ein Comeback?«
    Am fünften Oktober druckte die Zeit die Fotos ab, die Manea uns zugesteckt hatte. Sie waren der Aufmacher des Politikteils, begleitet von einer Zusammenfassung der »zwei Jahrzehnte währenden Misswirtschaft Ceaușescus«. Die Überschrift lautete Der letzte Stalinist . Der pudrige, monochrome Druck sorgte dafür, dass unsere Fotos, die an den Set eines Horrorfilms erinnerten, noch schrecklicher wirkten.
    Leo las den Artikel zweimal, jeweils mit unterschiedlichem Blick, um nach neuen Informationen in Zusammenhang mit dem zu suchen, was wir schon wussten. Ob Manea über die Veröffentlichung informiert war? Sie ging immerhin auf sein Konto, und er würde die Folgen im Auge behalten. Ich stellte mir vor, wie er am Schreibtisch vor der aufgeschlagenen Zeitung saß und darauf wartete, dass Stoicu sich nach dem Anschiss Elenas und des Genossen im Büro regte. Das war das eine Szenario. Das andere sah so aus: Manea verhaftet, sein Geständnis vorformuliert. Was war vor einigen Jahren mit seinem Vorgänger, General Anton, geschehen? Nachdem sich sein Sohn in die USA abgesetzt hatte, war der General in einer unhaltbaren Position gewesen. Er hatte versucht, sich von seinem Sohn zu distanzieren, hatte ihn sogar öffentlich verleugnet. Alles vergeblich. Nach einem Besuch von Stoicu erschoss er sich im Wald mit einer Pistole. Mord war nicht mehr in Mode; erzwungener Selbstmord schon.
    Das Haus des Schriftstellerverbandes, die Casa Monteoru-Catargi, befand sich in der Calea Victoriei. Vor dem Eingang mit der Marmortreppe, überdacht mit einer Konstruktion aus Eisen und Glas, erstreckte sich ein großzügig angelegter, aber verwahrloster Garten.
    Vierzig bis fünfzig Gäste hielten sich in der Sala Arghezi auf, wo sich unzählige Exemplare von Ein Leben im Dienst auf Tischen stapelten. Das Autorenfoto auf der Rückseite beeindruckte mich: Trofim als Student in Moskau, selbstsicher und mit Lenin-Bärtchen. Leo bezeichnete diese Miene als den Ich-stehe-auf-Seiten-der-Geschichte-auf-welcher-Seite-stehst-du? -Blick. Heute fand man ihn nur noch auf alten Fotografien.
    Die Sala Arghezi wurde trotz ihres Namens von zwei großen Ceaușescu-Porträts beherrscht. Darunter hing ein Gedicht des Hofdichters Adrian Palinescu, das Nicolae als »Donau des Denkens« pries, eine gruselige Metapher angesichts dessen, was ich inzwischen über den tödlichen Fluss wusste. Und ein lausiges Gedicht – in einer Welt, die eine einzige Parodie war, konnte sich die Kunst der Parodie nicht entfalten. Leo hatte vorgeschlagen, einen allegorischen Sketch zu schreiben, in dem die Parodie ihre Koffer packte, den Laden absperrte und ein Schild mit der Aufschrift »Geschlossen. Wenden Sie sich bei Fragen bitte an die Realität« an die Tür hängte. Palinescus Gedichte schickten die Parodie endgültig in

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