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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Eingangshalle verteidigte sich die übliche Vierzig-Watt-Funzel gegen das Dunkel. Wir hörten, wie der Fahrstuhl im Schacht rumpelte, mochten das Risiko aber nicht eingehen.
    Wir klopften. Keine Reaktion. Wir klopften noch einmal. Nach ein oder zwei Minuten schob Leo einen Zettel unter der Tür durch. Wir hörten das Schlurfen von Hausschuhen, eine laute Männerstimme, dann die beschwichtigende Stimme einer Frau. Dann wurde die Tür vorsichtig geöffnet, so weit es die Kette erlaubte. Eine alte Dame mit wirren Haaren und Hängebacken musterte uns durch den Spalt.
    »Ja?« In ihrer Stimme schwang müde Furcht mit.
    »Herr und Frau Stanciu?« Leo schob sein Gesicht zu ihr hin, und sie wich zurück und schloss die Tür. Ottilia zog Leo beiseite und legte ihren Mund dicht vor die Tür.
    »Ich bin Ärztin, Frau Stanciu, und habe Medikamente für Ihren Mann.« Eine kurze Stille, dann wurde die Kette gelöst. »Sergiu Trofim schickt uns.«
    »Verschwinden Sie. Er hat uns genug Ärger eingebrockt. Mein Mann war nicht bei Sinnen. Er hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Er bereut sie zutiefst.«
    In der Wohnung ertönte ein wütendes Knurren. »Um Gottes willen, Frau, lass die Trottel eintreten!« Die Tür flog auf. Vor uns stand das Ehepaar Stanciu: sie eine graugesichtige kommunistische Matrone mit glatter Haut, er eine gichtige Tonne von Mann, ein alter Kämpe mit drei Wülsten unter dem Kinn, kurzen Beinen und Stock. Er hatte gelbe und verschwitzte Haut, seine Augen waren wässerig. Ich ahnte, dass Ottilia seine Krankheiten addierte, durch die jetzigen Lebensumstände teilte und dann errechnete, wie lange er noch leben würde.
    »Was wollen Sie?«, herrschte er uns an. »Wir haben die ganze Scheiße hinter uns. Mir ist alles egal. Ich widerrufe nicht. Ich habe oft genug widerrufen. Mein Leben lang hieß es: Unterschreiben Sie dies, widerrufen Sie das, gestehen Sie dies, leugnen Sie das; der muss weg, die muss rehabilitiert werden. Ich habe die Schnauze voll. Sie können mich mal.« Er sackte auf das Sofa, schob trotzig die oberste Kinnwulst nach vorn.
    Leo beruhigte ihn: »Ich achte Ihre kämpferischen Worte, Genosse, aber wir sind nicht gekommen, um etwas von Ihnen zu fordern. Ganz im Gegenteil. Ihr Freund Trofim …« Bei dem Wort Freund brummte Stanciu verächtlich, verbesserte Leo aber nicht. »Ihr Genosse Trofim hat uns gebeten, Sie zu besuchen und in Erfahrung zu bringen, ob wir Ihre Situation irgendwie erleichtern können.«
    Die Wohnung, in der man die beiden festhielt, war nicht luxuriös, bot aber das Nötigste. Auf dem Küchentisch lagen Obst und eine Mehltüte, und einen Fernseher gab es auch. Frau Stanciu kaufte nicht mehr im Duty-Free-Laden, schien aber an die Grundnahrungsmittel zu kommen.
    »Meine Freundin ist Ärztin. Sie hat Insulin dabei. Ich denke, das können Sie gut gebrauchen.« Stanciu sah Ottilia an und nickte, seine Miene hellte sich auf. Sie gab ihm die Tasche mit den Spritzen und Ampullen. Ein Dank schien ihm auf der Zunge zu liegen, doch er besann sich anders. »Ich lasse Ihnen und Ihrer Frau noch einiges hier. Was Sie damit anfangen, ist Ihre Sache.« Leo holte Zigaretten, Schinkenkonserven und Salami, eine halbe Flasche Whisky und einige Tafeln Schokolade heraus. Stanciu regte sich nicht, aber seine Frau sprang auf und versteckte alles im Schrank. Dann wollten wir gehen.
    Stanciu bremste uns. »Was ist mit Trofim?« Wir erstatteten ihm Bericht. Er räusperte sich laut, ließ Schleim im Mund herumgehen, spuckte grünlichen Glibber in ein Taschentuch. »Ganz der gerissene alte Jude – wie immer. Wenn es jemanden gibt, der hinter einem durch die Drehtür geht und trotzdem als erster draußen steht, dann Trofim. So ist er nun mal.«
    Leo lachte. Stanciu glotzte ihn an. »Und falls Sie glauben, dass ich mich für Ihr kapitalistisches Mitgefühl und diese luxuriösen Almosen bedanke …«, rief er uns nach.
    »Ja, ich weiß, ich weiß …« Leo hob beschwichtigend die Hände, während wir rückwärts zur Tür gingen.
    »… dann können Sie mich am Arsch lecken!« Die Tür wurde hinter uns zugeknallt.
    Das war Stanciu. Grob, bäuerisch, fett und krank, aber der unbekannte Held. Er hatte alles auf das Spiel gesetzt, obwohl er nichts zu gewinnen hatte; nun weigerte er sich – ob aus Tapferkeit oder Sturheit –, klein beizugeben. Wie Trofim gesagt hatte: Er wollte in Ruhe gelassen werden, ob von Freund oder Feind. Ich fragte mich, welchen Platz Stanciu und seinesgleichen in späteren Berichten

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