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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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von Historikern und Journalisten über das Ende des Kommunismus einnehmen würden. Manche, wie Trofim, setzten ihre hochpolitischen Strategien in die Tat um, andere gingen auf die Straße und übten von unten Druck aus, wieder andere, zum Beispiel Stanciu, blockierten das absurde System durch individuelles Handeln, das mutig oder nur widerspenstig war. Würden sie in der von den Legenden großer Männer oder von dem Mythos kollektiven Handelns besessenen Geschichtsschreibung einen Platz finden?
    Man ließ Trofim eine Woche später frei. Nach zwei Tagen in der Parteiklinik war er wieder zu Hause und empfing Besuch, obwohl er immer noch unter Bewachung stand. Stanciu und Apostol durften auch heimkehren, aber Trofim war es, dem ein ganzer Tross von Botschaftern die Tür einrannte, ob russisch, französisch, deutsch, belgisch oder amerikanisch, alle mit einem Schreiben des jeweiligen Außenministers. Eigentlich stand der alte Mann noch unter Hausarrest, aber die Wächter, die Besucher fernhalten sollten, verwandelten sich rasch in Vorzimmerdamen. Eines Tages, Ottilia und ich aßen mit ihm zu Mittag, trat der Polizeioffier ein, der Trofims Überwachung leitete.
    »Bitte verzeihen Sie die Störung, Domnul , aber der kanadische chargé ist eingetroffen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass er zu früh dran ist. Soll ich ihn bitten, in der Halle zu warten?«

VIER
    Trofim passte sich seiner halb verhuschten Berühmtheit an wie jemand, der nach einem langen Urlaub wieder an den Arbeitsplatz zurückkehrt. Irgendjemand – ganz offensichtlich kein Bukarester Schneider – stattete ihn mit eleganten neuen Anzügen und Sakkos aus. Das Regime schüchterte ihn weiter durch absichtlich plumpe Überwachung, Einbrüche und Abhöraktionen ein, ließ ihm jedoch viel Spielraum, um die Russen nicht zu verprellen. Er durfte frei reisen und hielt sich Anfang November acht Tage in Moskau auf. Eine Woche später folgte er einer Einladung nach Paris, wo er einen Vortrag halten sollte. Die rumänischen Behörden stellten ihm ohne viel Federlesens ein Visum aus und expedierten ihn umgehend außer Landes, aber er enttäuschte sie durch seine Rückkehr.
    Zwei Wochen später erfuhr Trofim, dass Stanciu einen Schlaganfall erlitten hatte, und besuchte ihn gemeinsam mit mir in der Klinik des Politbüros in der Strada Mihalache. Stanciu saß im Rollstuhl, eine Bauerndecke über den Knien. Sein Gesicht war aschfahl, die linke Hand zitterte. Ein mit dem Parteiemblem verzierter Aschenbecher quoll über von Havannastummeln. Die Regale im Besucherraum waren mit erbaulicher Literatur bestückt: Marx, Engels, Schwarten mit den Reden und wissenschaftlichen Traktaten des Ehepaares Ceaușescu. Zwei tragbare Lesepulte aus Metall, jeweils im gleichen Abstand neben den Bücherregalen stehend, präsentierten eine der Abhandlungen über Polymere, als deren Autorin Elena sich ausgab, und ein Buch Ceaușescus mit dem Titel Sozialismus und neue Gesellschaft . Ein halb gelesener Roman von Gorki lag umgedreht auf Stancius Schoß. Neben ihm stand eine Krankenschwester, die Augen und Ohren offen hielt.
    »Verflucht! Nicht schon wieder du! Hast du mir immer noch nicht genug Ärger eingebrockt?« Stanciu rang sich ein leises Lachen ab, hustete und versuchte vergeblich, auszuspucken. Er wischte sich den Schleim mit dem Bademantelärmel vom Kinn.
    »Wirst du gut behandelt?«, fragte Trofim so herzlich und taktvoll, als hätte er einen Sterbenden vor sich.
    »Kann mich nicht beklagen. Sitze hier rum und sehe zu, wie mein Körper die Schotten dichtmacht und absäuft. Manchmal bilde ich mir ein, eines meiner Beine wäre nass, weiß aber nicht, ob ich mich wieder eingepisst oder etwas verschüttet habe.« Er trank einen Schluck Wasser. »Dazu dieser elende Gorki. Wenn man die KGB-Archive öffnet, wird man feststellen, dass Stalin ihn verboten hat, weil er so stinklangweilig ist, jede Wette.«
    »Können wir irgendetwas für dich tun, Genosse?«, fragte Trofim. »Immerhin habe ich dich in die Sache reingeritten.«
    »Saul …« Stanciu beugte sich vertraulich nach vorn, senkte die Stimme. »Ich bereue immer noch, dass wir den Job, den Marschall Antonescu begonnen hat, nicht zu Ende geführt haben.« Er lachte. »Ja, ihr könnt etwas tun. Bitte besucht mich nächste Woche wieder. Und bringt mir noch ein paar von diesen mit.« Er schwenkte eine leere Havannaschachtel und bat die Krankenschwester, ihn wegzuschieben.
    »Der Mann hat wirklich Humor«, sagte ich draußen. »Dieser Witz über

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