Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
hüfthoch verkrautet, waren nur noch an den Spuren einsamer Trauernder zu erkennen, die sich bis zu einem Grabstein durchgekämpft hatten. Hier gab es keinen Schmuck, keine Blumen, keine beschönigenden Worte – nur Namen und Daten auf Hebräisch oder Rumänisch. Wenn man die Augen verengte, erinnerten die Oberkanten der Grabsteine an die Wogen einer trüben See.
Vor dem Wärterhäuschen hing die zerknitterte Fotokopie einer Karte, auf der man die Wege und die Grabstätten berühmter rumänischer Juden mit Zahlen versehen und unten aufgelistet hatte. Nichts versinnbildlichte besser das Schicksal der Juden während der vergangenen hundert Jahre: überwucherte Gräber, schiefe oder versinkende Grabsteine, Denkmäler von Menschen, deren glücklichere Nachkommen in Israel, Frankreich oder Amerika lebten. Dies war eine Stätte des Todes; nicht wegen der Verstorbenen, sondern weil sich kein Lebender mehr hierher verirrte. Ich las die Namen: jüdische wie Avram, Gerschom, Binyamin, Namen aus allen Ecken und Enden der Diaspora, die man kurzerhand standardisiert und in pseudoklassisches Rumänisch übertragen hatte. Saul wurde zu Sergiu, Trofinsky zu Trofim …
Der Friedhofswärter wachte furchtsam am Tor, spitzte die Ohren. Ich stellte mir vor, wie seine Vorfahren oder, angesichts seines Alters und seiner Gebrechlichkeit, vielleicht sogar er selbst als junger Mann angespannt auf das Hufgetrappel des nächsten Pogroms, das Motorengedröhn der nächsten Deportation gehorcht hatten. All das, hieß es, gehöre jetzt der Vergangenheit an, aber als Wärter dieses Friedhofs wusste er es besser.
Trofim blieb abseits der Gräber stehen. Dies war ein Ort des Glaubens, eine Stätte seiner Religion, ihn aber würde man auf einem der Parteifriedhöfe mit den wuchtigen, mit emaillierten Hammer-und-Sichel-Emblemen geschmückten Granitgrabsteinen bestatten, über denen sich Skulpturen im Stil des sozialistischen Realismus erhoben, insgeheim an das Kreuz angelehnt. Ich kannte den Parteifriedhof in Snagov mit den exerzierplatzartigen Rasenflächen, den rechtwinkligen Wegen, dem zentralen Platz mit der riesigen Bronzeplastik eines Flugzeugs. Darunter stand ein Mann, breitbeinig und mit ausgestreckten Armen, der sich aus seinem Fallschirm wickelte wie aus einem Leichentuch. Christus als Pilot – was am Christentum abgelehnt wurde, sickerte in die Bilder ein, die es ersetzen sollten.
»Drehen Sie eine Runde.« Trofim zeigte mit seinem Stock auf den Friedhof, der hinten schon in Dunkelheit versank, während die vordersten Grabreihen umso heller im letzten Sonnenschein leuchteten. Ich machte mich auf den Weg. Dieser Friedhof erinnerte an eine evakuierte Stadt. Überall zerbrochene Grabplatten und gähnende Familiengrüfte, gesprengte Zäune, aufgebrochene Gräber. Hier strichen Katzen herum; Skelette von Tauben und Kleintieren lagen auf den Marmortrümmern. Ich hörte ein Schlurfen hinter mir, das Knirschen von Kies, das Knacken von Zweigen. Dann schloss der Wärter zu mir auf, nach dem beschwerlichen Weg außer Atem.
»Er kommt jede Woche, bleibt aber immer am Rand, sitzt nur auf der Bank. Ich öffne das Tor seit dreißig Jahren für ihn. Es ist immer das Gleiche: Er gibt mir die Hand, sitzt eine Stunde da und geht dann wieder.«
»Wo ist seine Familie bestattet?« Ich wusste sofort, dass dies eine dumme Frage war, aber nun hatte ich sie ausgesprochen.
»Bestattet?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist alles – nur nicht bestattet.« Wir schwiegen ein paar Minuten, dann sprach er weiter: »Sein Sohn war einmal hier. Vor gut zehn Jahren, um das Kaddisch für einen Schulfreund zu sprechen. Der Rabbi. Lebt in Israel. Domnul Trofinsky hat wie üblich auf der Bank gesessen. Er sagte, es reiche ihm, die Worte zu hören, und in Snagov warte ein hübsches Marmorrechteck auf ihn, ordentlich und rational, ohne Hokuspokus.« Der Wärter senkte die Stimme. »Aber ich weiß, dass er auf seinen Sohn stolz ist.« Dann rief er plötzlich: »Schauen Sie!«
Trofim war auf die Bank gesunken. Ich eilte zu ihm, erfüllt von einer Angst, die ich nicht in Worte zu fassen wagte. Sein Stock war auf den Boden gefallen, ein Arm hing schlaff über der Lehne.
»Sergiu«, rief ich. Keine Regung. »Sergiu.« Ich rannte über den Kiesweg und sah am Rand – dank der plötzlichen Klarheit, die ein Adrenalinstoß bewirkt – das kleine, blaue, knöchelhohe Emailschild: »Boulevard Gala Galaction«. Eine Stadt der Toten mit eigenem Straßennetz und
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