Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
rühmten plötzlich seine brillante Karriere. Die Washington Post veröffentlichte ein Porträt, in dem er von Kissinger als »hellwacher, humanistisch gesinnter Realist und europäischer Gentleman der alten Schule« bezeichnet wurde. Die Prawda nannte ihn einfach »die Wahl der Partei«, was weit von der Wahrheit entfernt war, aber, sobald »die Partei« den Prawda -Artikel gelesen hatte, rasch eine werden würde. Trofims Taktik war riskant, denn die Rumänen hassten die Russen noch mehr als Ceaușescu, doch er hatte klug kalkuliert – die Russen waren inzwischen die bessere Wahl. Gorbatschow war der einzige Garant für einen demokratischen Wandel; und für die Parteifunktionäre war er ein Garant dafür, dass sie bei einem Sturz Ceaușescus ungeschoren davonkamen.
Wir brauchten zehn Tage, um herauszufinden, wo Trofim festgehalten wurde, und es war Ozeray, der uns schließlich den Tipp gab. Niemand fragte ihn nach seiner Quelle, aber die Informationen stimmten bis in das letzte Detail. Wir wussten, dass während des Schichtwechsels für eine halbe Stunde nur ein Wächter aufpasste, nicht vier. Außerdem hatten wir Berge von Bestechungsgut dabei: zwei Tüten mit tiefgefrorenen Steaks, sechs Flaschen Johnnie Walker, ein Dutzend Stangen Kent, drei Walkmans und hundert Dollar. Wenn man dem Wächter auf die Schliche käme, wäre er ein toter Mann. Später dachte ich, dass dieses Paket aus Geld, Nahrungsmitteln und Elektrowaren in Rumänien der Preis für ein Leben war. Anderswo auf der Welt mochte ein Leben billiger zu haben sein, aber hier war ich Zeuge, wie der Gegenwert ausgezahlt wurde.
Der verängstigte Wächter traf uns in der dunklen Lobby des Wohnblocks, eines hoch aufragenden, schiefen Gebildes aus feuchtem Beton und rostigen, verbogenen Metallstangen. Es war nicht einmal ansatzweise fertig, aber Lastwagen, Kräne und Betonmischer waren schon zum nächsten Bauprojekt weitergezogen. »Vierzehnter Stock. Wohnung sechs. Hier ist der Schlüssel. Aber Beeilung bitte. Für mich ist das sehr gefährlich.«
Wir nahmen die Treppe. Im Licht von Leos Taschenlampe erblickten wir Hundekot, Glasscherben, den Kadaver einer gerissenen Katze. Im achten Stock stießen wir in der Ecke mit den Fahrstühlen auf eine zitternde Hündin, die winzige Welpen säugte. Sie hob den Kopf, sammelte knurrend ihre letzte Kraft. Leo zog ihr das Fahrstuhlgitter über den Kopf. In den Fluren standen Pfützen, überall lag Müll. Im vierzehnten Stock hörten wir ein Kratzen, verursacht von einem wild lebenden Hahn, der kritisch den Kopf hin und her ruckte und dann in einem Loch in der Wand verschwand. Er gehörte vermutlich zur zweiten oder dritten Generation des urbanisierten Bauernhofgeflügels, das in den Vororten eine magere Existenz zusammenkratzte.
Leo schloss die Tür auf. Ein Vorhang flatterte vor einem unverglasten Fenster. Die Wohnung war eine leere Hülle mit unverputzten Betonwänden und nacktem Betonfußboden. Im Wohnraum herrschte ein Chaos aus unverbundenen Rohren und losen Kabeln. Aus einem Nebenraum drang Klogestank, der Fußboden war feucht. Trofim lag auf einer Matratze in der Ecke. Wir hatten ihn geweckt. Leo richtete den Strahl der Taschenlampe auf sein Gesicht. Er rieb seine Augen, richtete sich auf, rief:
»Wer ist da?«
Trofim trug noch den Anzug, in dem man ihn abgeholt hatte. Er hatte nichts mitnehmen dürfen. Keine Bücher, kein Radio, keine Unterlagen. Seine Hände zitterten, als er uns umarmte. Er hatte einen Schnitt auf der Stirn, vielleicht von einem Sturz im Dunkeln. Er riss sich zusammen, zog den einzigen Stuhl im Zimmer heran, entfachte den Campingkocher. Leo packte die mitgebrachten Vorräte aus: Kerzen, Kekse, Whisky, Konserven mit Baked Beans, Fertigsuppen, deutsche Salami. Dann zauberte er noch drei Bananen hervor. Trofim war mager und abgerissen. Er hustete schmerzhaft und hohl. Mir fiel ein, dass er während des Krieges zwei Jahre im Gefängnis und anschließend sechs Monate in Einzelhaft gesessen hatte. Er konnte mit dieser Situation sicher besser umgehen als andere Siebzigjährige, aber sie forderte ihren Tribut. Er sprach langsam und keuchend.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte er. »Ich habe nichts gehört. Ich bin den ganzen Tag allein. Keine Schläge, keine Folter, nur Isolation. Ich komme zurecht.«
Ottilia zwängte sich an Leo vorbei, krempelte Trofims Ärmel hoch und maß seinen Blutdruck, untersuchte seine Augen, horchte die Brust ab. Sie holte zwei Inhaliergeräte aus ihrer
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