Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
blau-weißen Schildern. Noch eine Stadt der verlorenen Wege. »Saul!«
Trofim erschrak, stieß einen gedämpften Schrei aus. Er sah sich verwirrt um, blinzelte, rieb seine Augen.
»Verzeihung«, sagte Trofim. »Ich war eingenickt …«
»Ich dachte schon, Sie wären …« Ich verstummte. Er wirkte so bleich und zerbrechlich, dass das Wort tot eher wie eine Beschwörung als eine Mutmaßung geklungen hätte, vor allem an diesem Ort.
»O nein. Ich habe nur geübt«, sagte er lachend, musste dann husten und krümmte sich, um wieder zu Atem zu kommen.
Ich half ihm auf, und auf dem Heimweg stützte er sich noch etwas stärker auf mich.
Der November verhieß einen gnadenlosen Winter. Wenn Leo morgens aus dem Haus ging, schnupperte er die Luft mit weit geblähten Nasenlöchern. »Riech das mal … tief einatmen … das ist der Geruch des Rückzugs.«
Die Bäume schienen ihr Laub über Nacht verloren zu haben. Und während sich die Baustellen immer weiter in die Landschaft fraßen, eilten die Menschen von einer Wüstenei zur anderen, sammelten Brennholz und Zweige, alles, was sie warm halten würde. Eines Nachts erblickte ich im Schein des Mondes, der an einem klinisch reinen, kalten Himmel stand, zwanzig oder dreißig Beutejäger, die ihre Äxte in Stümpfe hieben und die Stämme gefällter Bäume zerlegten. Die Stille wurde regelmäßig vom dumpfen Laut unterbrochen, mit dem die Klingen ins Holz fuhren. Trotz der überall aufragenden Hochhäuser und Kräne war das ein mittelalterlicher Anblick, eine Szene wie auf einem Gemälde Brueghels, die die triste und rätselhafte Atmosphäre dieses Ortes weit besser einfing als die brutalen Bilder in Leos Akten.
Man bereitete Bukarest auf den vierzehnten Parteitag vor. Die Versorgung mit Gas und Strom wurde in den meisten Stadtteilen immer wieder ausgesetzt, und wenn es ein System gab, funktionierte es so: Die Energieversorgung wechselte in zweistündigem Abstand von Viertel zu Viertel; ausgehend vom Zentrum schritt sie Stück um Stück voran und erreichte am späten Abend die Vororte, was zu surrealen Szenen führte: Mitten in der Nacht wurde in hell erleuchteten Wohnblocks gekocht, geduscht, gebadet. Diese Enklaven nächtlichen gesellschaftlichen Lebens waren rings um die Stadt verstreut. Später, während des Aufstandes, hatte dies den Vorteil, dass große Teile der Bevölkerung – vor allem jene, die am meisten unter der Inkompetenz und Brutalität der Regierung zu leiden hatten – auf den Beinen waren und sofort mobilisiert werden konnten. Viele hatten sich sogar schon gewaschen.
Geschichten waren in Umlauf: von Männern und Frauen, die in der Küche am brennenden Gasherd schliefen, um es warm zu haben, und an Kohlendioxidvergiftung starben, weil das Gas nachts abgestellt und irgendwann wieder angestellt wurde. Überall in der Stadt verbrannte man Gummi und Plastik, und der beißende Qualm verätzte Augen und Kehle.
Eine Woche vor dem Parteitag erzählte ich Leo, dass ich Vintul am Abend der Buchpräsentation Trofims im Athénée-Palast gesehen hatte. Ich wollte ihn überraschen, hätte aber wissen müssen, dass er mir einen Schritt voraus war.
Er hatte Vintul auch gesehen und dies wie ich verschwiegen, doch er hatte Nachforschungen angestellt. »Ich habe Manea aufgesucht. Er hat ein für Stoicu bestimmtes Dossier in die Hände bekommen, das nahelegt, dass Vintul seit jeher ein Pflänzchen des Innenministeriums ist, ein Securitate-Agent. Er hatte die Aufgabe, die Aktivitäten der Studenten zu überwachen, vor allem die der Untergrundszene. Er hat für Stoicu die Fluchthilfe organisiert.«
»Stoicu? Willst du damit sagen, dass wir Marionetten von Stoicu waren? Seit wann weißt du das?«
»Seit ein paar Wochen. Seit du mit Ottilia bei Manea warst. Ich habe Manea angerufen. Er konnte nicht genau sagen, wer Stoicus V-Mann war, aber am Ende lief es auf ein paar Leute hinaus, die inzwischen alle verschwunden sind. Zwei sind tot, das steht fest – ihr habt die Fotos gesehen –, und hierzulande beweist der Tod meist die Unschuld. Petre könnte auch für die Securitate gearbeitet haben, aber da wir beide Vintul gesehen haben, ist das unwahrscheinlich. Es besteht die Möglichkeit, dass Petre entkommen ist, aber ich muss gestehen, dass ich das bezweifele.«
»Was ist da gelaufen?«, fragte ich. Leo bat mich, Platz zu nehmen.
»Alles Schwindel. Das weiß ich mit Sicherheit. Die Flüchtlinge, Überläufer oder die mitternächtlichen Abenteurer. Meist geht es schief. Viele
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