Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
als er anderen über die Grenze geholfen hatte. In gewisser Weise stimmte das sogar. Ich mochte Manea und war ihm dankbar, gab mich aber keinen Illusionen hin: Wissen war wertvoll; man hortete es wie Benzin, Nahrungsmittel oder Devisen.
Ich hatte Petre für den einzigen Menschen gehalten, der über der Bösartigkeit und dem Betrug stand, die unser Leben hier bestimmten. Aber Ottilia fühlte sich verraten, und sie gab mir eine Mitschuld daran – weil ich nichts gewusst, oder besser gesagt, bewusst die Augen verschlossen hatte. Wir hatten an Petre geglaubt, und dieser Glaube hatte uns vor Zynismus und Misstrauen bewahrt, obwohl wir beides gebraucht hätten, um uns vor seinem Doppelleben zu schützen. Wenn man gegen Lügen gefeit sein wollte, musste man den Glauben an Wahrheiten aufgeben.
Außerdem hatte ich bereits bei meinem ersten Besuch in Ottilias Wohnung gewusst, dass Petre tot war. Die im Kasten verstaute Gitarre, der Verstärker, noch angeschlossen an eine Steckdose ohne Strom – ich verstand die Sprache verwaister Dinge, hatte sie zu Hause gelernt, ahnte schon damals, wie die Sache stand. Doch ich hatte mir dieses Wissen weder eingestehen können noch mit Ottilia geteilt. Auch das warf sie mir vor.
Was Petre getan oder nicht getan hatte, war in meinen Augen unwichtig. Er hatte ebenso fest an seine Pläne geglaubt wie Leo an die seinen. Der Unterschied zwischen beiden bestand jedoch darin, dass Petre der Realität nicht auswich, sondern sie verändern, verbessern wollte. Laut Manea war Petres Verhältnis zum Sozialismus komplexer, als wir meinten; er hatte, ähnlich wie Trofim, seinen Glauben daran nie ganz aufgegeben. Das Projekt , egal wie unwirklich es sein mochte, egal wie wenig davon übrig war, bezeugte dies. Die meisten Leute waren heimliche Dissidenten. Petre war ein heimlicher Kommunist gewesen. Er hatte viel Gutes bewirkt, im ganz konkreten Sinn, auch wenn er selbst eher zwielichtig gewesen war. Ich versuchte, dies Ottilia zu erklären. Petres Doppelleben, sagte ich ihr, habe nichts mit dem Menschen zu tun, denn wir gekannt, an den wir geglaubt hatten. Sie sah mich mitleidig und etwas verächtlich an. »Du solltest einer Kirche beitreten«, sagte sie. Und dann: »Oder der Partei.«
Ottilia glaubte, mit der Schande alleingelassen worden zu sein. Sie bestrafte Petre, indem sie sich selbst bestrafte. Allen, die Petres Charakter, seine Musik oder seine Taten lobten, schnitt sie das Wort ab und verließ das Zimmer. Die meisten erklärten sich dies durch Trauer. Sie sprach kaum noch mit mir, und unser gemeinsames Leben bestand aus Schweigen.
Sie kam nur noch unregelmäßig nach Hause, stürzte sich wie besessen in harte, riskante Arbeit. Sie riss überflüssige, unbezahlte Überstunden ab, schlief auf der Station, arbeitete einen Tag in der Woche freiwillig in einem Waisenhaus oder einer Krebsstation – tat Buße für Petres Schuld. Während der einsamen Nächte erfüllte mich Angst und Sorge; aber wenn sie da war, war es noch schlimmer. Ich hörte, wie sie sich im Bad übergab oder im Dunkeln schluchzte, und wenn ich sie trösten wollte, schüttelte sie mich ab, zuckte bei jeder Zärtlichkeit zusammen. Ich tat nachts kein Auge zu, konnte hören, wie sie in den frühen Morgenstunden unter der kalten Dusche stand, um die Schrecken des Tages abzuspülen.
Eines Wintermorgens gegen fünf Uhr, ich war vor ihr wach, erblickte ich ihren weißen, vollkommen verdreckten Kittel. Ich nahm ihn mit in die Küche, drehte die Wasserhähne der Spüle auf und schrubbte ihn. Dreck rann über meine Hände. Irgendwann kam Ottilia in die Küche, und als sie das Licht anknipste, sah ich, dass meine Hände tief in rotem Wasser steckten, dass meine Fingernägel blutverkrustet waren, dass die Spüle einen rostfarbenen Schmutzrand hatte.
Die Vorbereitungen für den Parteitag liefen auf Hochtouren. Tiefflieger donnerten über die Stadt, man hielt militärische Übungen ab, ließ Soldaten zu kriegerischer Musik aufmarschieren. Die Kondensstreifen der Jets musterten den Himmel, eine Vergeudung, wenn man bedachte, dass die Busse wegen Treibstoffmangels nicht fuhren und die Leute in ihren Wohnungen froren. Ungeachtet der unterbrochenen Schichtarbeit und der Tatsache, dass viele Arbeiter gar nicht erst in ihre unbeleuchteten Fabriken oder Büros gelangten, wurden immer neue Produktionsziele ausgegeben: mehr Stahl, mehr Autos, mehr Weizen, mehr Mais. Die Scînteia verkündete immer neue Produktionsrekorde, sprach von einer
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