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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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bemerkten, als sie vor uns stand. Sie war quer durch die Stadt gelaufen, durch Kontrollen und vorbei an den Wachen, immer mit dem Bild Petres vor Augen. Dieses Mal war er es tatsächlich gewesen.
    Campanu, der Pathologe, hatte sie am frühen Abend angerufen, weil er bei einer der zu Dutzenden eintreffenden Toten Petres Papiere entdeckt hatte. Der Zustand seiner Leiche war ungewöhnlich, denn sie war kalt bis auf das Mark, leichenschauhauskalt , was dem Pathologen verriet, dass dieser Mann schon seit Wochen tot war; man hatte ihn irgendwo gelagert und dann plötzlich freigegeben. Zweitens deutete eine Kopfwunde auf eine Exekution hin – alle anderen waren durch ungezielte Weitschüsse getötet worden. Drittens hatte man allen übrigen die Papiere abgenommen, nur diesem Mann nicht. Irgendjemand schien eine Identifizierung beabsichtigt zu haben. Ottilia nahm eine sachliche Diagnose vor und untersuchte das kreisrunde, am Rand versengte Einschussloch auf Petres Schläfe. Das war die Selbstbeherrschung vor dem Zusammenbruch.
    Ottilias Kleider waren nass, weil sie über die Eisblöcke gestolpert war, mit denen man die Leichen während der Stromausfälle kühlte. Der betrübte Campanu hatte ihr helfen wollen, obwohl er mehr als genug mit den Opfern aus der MetalRom-Fabrik zu tun hatte. Er hatte ihr ein heißes Getränk und einen Stuhl angeboten, damit sie sich etwas beruhigen konnte. Danach war sie nach Hause gegangen – ungehindert von Militär und Miliz und wie ein Geist, der durch den Tumult glitt.
    Campanu konnte den Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen. Er wusste nur, dass man Petres Leiche, die zusammen mit fünf anderen, an diesem Abend umgekommenen Personen von Soldaten des Innenministeriums gebracht worden war, kühl gelagert hatte.
    Ich merkte erst nach einer Weile, dass Ottilia eine Tüte fest in der Hand hielt. Das Plastik war durchsichtig, dick und nass – Wassertropfen zeigten sich an der Stelle, wo Ottilia sie hielt. Als sie die Tüte auf den Tisch fallen ließ, ertönte ein Klimpern wie von Kleingeld, gedämpft von feuchtem Papier. Sie stand auf und sah uns an.
    »Na los«, forderte sie uns auf. »Öffnet sie.«
    Leo sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Er seufzte, setzte sich und leerte den Inhalt behutsam auf den Tisch. Petres Uhr, ein Glashütte-Modell aus der DDR, das Beste, was man im kommunistischen Europa bekommen konnte. Ich griff danach. Die Uhr lag kalt und schwer in meiner Hand; sie lief noch, obwohl sich unter dem Glas Kondenswasser gebildet hatte. Ich legte sie der Länge nach auf den Tisch. Außerdem waren da noch ein paar Münzen und das Notizbuch mit Gummiband, in das Petre seine Songtexte geschrieben hatte. Ein Schlüsselring des Havanna-Clubs ohne Schlüssel und ein Ausweis, von dem Leo nervös den Schmutz wischte. Das war alles. Er sah zu Ottilia auf.
    »Schau in den Ausweis.«
    Leo klappte ihn auf. Zwischen dem nassen Karton des rumänischen Personalausweises steckte ein zweiter, laminierter Ausweis von der Größe einer Kreditkarte. Ich wusste nicht, was es war, aber Leo und Ottilia hatten dergleichen oft gesehen. Leo ließ ihn fallen, als hätte er sich die Finger verbrannt. Ottilia wandte den Blick ab. Der Ausweis lag richtig herum auf dem Tisch – das Foto zeigte Petre in Uniform, den Blick zur Decke gerichtet. Es war ein Ausweis des Innenministeriums für Major Petre Romanu.
    Ottilia begann zu weinen. Ich hielt sie fest in den Armen, während sie schluchzte und heftig am ganzen Körper bebte. Ihre Kleider, die nach Rauch und dem zur Kühlung der Toten dienenden Eis rochen, trugen die Leichenhalle bis zu uns. Dazu der Formaldehydmief, der von der Allgegenwärtigkeit des Todes zeugte. Wir waren sprachlos: Petre, ein Major der Geheimpolizei.
    Leo setzte zu einer Erklärung oder Entschuldigung an: Der Ausweis sei fingiert, man habe Petre zum Dienst gepresst, es sei nur eine Finte. Leo glaubte wahrscheinlich nicht an seine Worte, versuchte aber wie üblich, das Problem mit einem Bluff zu meistern, verschob es, bis ein nächstes auftauchte. Er änderte nur den Problemrahmen, in der Hoffnung, die Sache aus der Welt zu schaffen.
    »Hör auf, Leo – lass die Spekulationen, Gerüchte, wilden Vermutungen. Schluss mit all den Bluffs!«, schnitt Ottilia ihm das Wort ab.
    Sie ging in unser Zimmer und legte sich hin, betäubte sich mit Schlaftabletten. Sobald ich sicher sein konnte, dass sie schlief, ließ ich den grübelnden Leo allein und ging zu ihr. Ich wurde von der Türklingel und der

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