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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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Unzufriedenheit hatte plötzlich ein konkretes Objekt. Cilea schien der Stimmungsumschwung, den sie ausgelöst hatte, nicht zu bekümmern. Ob sie ihn überhaupt bemerkte? Sie setzte sich, öffnete ihre Tasche und holte eine gekühlte Flasche französischen Weins und Oliven aus Italien heraus.
    Ioana verschwand als erste unter dem Vorwand, am anderen Ende der Stadt eine Verabredung zu haben. Leo blieb noch kurz und tauschte steife Höflichkeitsfloskeln mit Cilea aus, dann ging auch er. Falls Cilea sich dadurch beleidigt fühlte, gab sie das nicht zu erkennen. Sie ging in die Küche, ohne sich nach dem Weg dorthin zu erkundigen, und holte eine Schale und Gläser; Belangers Wohnung konnte offenbar auf eine lange Geschichte der Gastfreundlichkeit zurückblicken.
    Cilea reichte mir den Korkenzieher und öffnete die Dose mit Oliven mit den Zähnen. Mir fiel auf, dass ihre Vorderzähne einen roten Streifen neu aufgetragenen Lippenstifts zeigten, und ich erinnerte mich an dessen wachsigen Geschmack, als ich sie geküsst hatte. Ich entkorkte die Flasche, sie schenkte ein. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Leos Gras war stark, aber der türkische Tabak, der dazu geraucht wurde, war noch stärker. Cileas Wein schmeckte genauso perfekt wie er aussah. Einen so hochwertigen Chablis fand man hier sehr selten, selbst in den Diplomatenläden oder den Hotels für Westler, ganz gleich, ob man in Pfund, Dollar oder D-Mark bezahlte.
    Sie war in einer anderen Stimmung als bei unserem letzten Treffen. Sie hatte offenbar eine Entscheidung in Bezug auf mich getroffen, nur wusste ich nicht, wie diese ausgefallen war. Ihre Körpersprache war offener. Sie war nicht so vorsichtig, weniger auf der Hut, und sie zeigte zum ersten Mal Interesse an mir. Ich war halb zugedröhnt und halb betrunken, aber beides ergänzte einander. Ich stellte fest, dass ich schlagfertiger und unterhaltsamer war und ihren bohrenden Fragen besser Paroli bieten konnte.
    Es ging auf siebzehn Uhr. Die Parade war seit vier Stunden im Gange – vier Stunden Musik, Marschieren und über der Stadt brüllende Militärjets. Das Fernsehen schwelgte immer wieder in der Nahaufnahme hochrangiger Gäste. Oberst Gaddafi kannte ich aus der Schurkengalerie des Westens; Mugabe saß vor einer Reihe prachtvoll uniformierter Afrikaner. Yassir Arafat, ein Stammgast bei Ceaușescus Festakten, saß neben dem Conducător . Ein paar Monate später sollte er der Ehrengast bei Ceaușescus allerletztem Parteitag sein. Dahinter saßen die üblichen Verdächtigen aus dem Diplomatenmilieu. Alle blickten stur geradeaus. Der britische Botschafter trug die gewohnt feine Anspannung zur Schau; seine leicht zusammengekniffenen Lippen und Augen deuteten auf alles Mögliche hin, sei es ein unterdrückter Furz oder moralische Empörung. Die Nahaufnahmen von Ceaușescus Gesicht waren interessanter. Dieser Mann war stets auf der Hut. Seinen kleinen schwarzen Augen, hellwach und zuckend vor Paranoia, entging nichts von dem, was sich ringsumher abspielte.
    Die nächste Flasche, aus Belangers Vorrat, war warm und süß und kein echter Genuss. Cilea schien sich wohlzufühlen, aber ich befürchtete, dass der Nachmittag schon vor sieben Uhr in Kopfschmerzen und Übelkeit verkleckern und um zehn Uhr im Bett enden würde. Und zwar allein. Cilea kostete den Wein und verzog das Gesicht.
    »Komm«, sagte sie, »lass uns bei der Parade mitmarschieren – wir finden schon ein Plakat für dich. Wir werden sicher die einzigen spontanen Teilnehmer sein.«
    Beim Verlassen der Wohnung hakte sich Cilea bei mir unter. Sie ging beschwingt, zog mich mit. An der Ecke der Alea Alexandru fanden wir uns mitten in der Parade wieder. Ich sage »Parade«, obwohl es eher einem Tross von Gefangenen mit unsichtbaren Ketten glich. Die Leute trotteten dahin, als wären sie an Fußknöcheln und Ellbogen zusammengekettet, hielten den Kopf gesenkt oder starrten den Hinterkopf ihres Vordermannes an. Viele hielten grellbunte Banner, gelb und rot und schwarz und mit dem nach dem Vorbild römischer Militärstandarten entworfenen Parteiemblem. Sie bewegten sich lautstark, aber träge schlurfend vorwärts.
    Die meisten Plakate zeigten das Ehepaar Ceaușescu, einige wenige das Bild anderer Personen, vermutlich Minister, ein oder zwei Marx und Lenin. Weit vorne spielte Musik, aber die Parade schleppte sich freudlos über drei Kilometer dahin. Ein abrupter Halt ging wie eine Welle durch die Reihen, und was im Fernsehen wirkte, als würde es mechanisch und wie

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