Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
längst zerstörte Bukarest ihrer Jugend, die Geister seiner Gebäude. Als habituée des Orient-Express, in dem ihre Familie für die transeuropäischen Reisen einst ganze Pullman-Wagen bewohnt hatte, verwirrte sie der Flughafen. Der Flug ging am Abend, und in der Abflughalle hörten wir die Zikaden, winzige, in den Bäumen dröhnende Motoren. Sie legte bei der Passkontrolle ihre Dokumente vor, hielt dem Beamten die behandschuhte Hand zum Kuss hin. Der junge Mann starrte sie an und lachte. Auf der anderen Seite der Mattglaswand wandte sie sich ab und winkte uns weg. Die Diener waren entlassen.
Das dachten wir jedenfalls, doch einen Monat später war sie wieder da. Vor ihrem Abflug hatte sie zwar in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort gelebt, aber nach ihrer Rückkehr war sie jenseits von Gut und Böse. »Jetzt ist sie komplett durchgeknallt«, sagte Leo, als er sie in der Schlange bei der Ankunft sah, schwankend, zerzaust, den Blick auf die Weiten ihres Inneren gerichtet. Niemand wusste, was in Paris geschehen war, und sie erzählte nie davon.
Wir fuhren sie nach Hause. Sie war gespenstisch mager und hohläugig, trug noch die gleichen Kleider wie beim Abflug und roch nach Urin.
Leo und ich halfen ihr die Treppen hinauf. In ihrer Wohnung knickste die Dienstfrau und richtete sich mühsam wieder auf: Sie war auch ein Jahrzehnt gealtert, als wäre sie symbiotisch mit ihrer Herrin verbunden. Sie hatte in der Wohnung nichts verändert; hatte weiter das Silber poliert, die Ikonen geputzt, Bücher und Möbel entstaubt. Die Prinzessin sah sich um, als wäre alles neu für sie: das schmuddelige Treppenhaus, früher die Porträtgalerie ihrer Familie; das Geländer, an dem sie mit ihren Brüdern – einer im Ersten Weltkrieg gefallen, der andere nach dem Einmarsch der Russen vermisst – gespielt, den Handlauf, den sie als Rutsche benutzt hatte; den mit Spanplatten aufgeteilten Flur, in dem sie als Debütantin Ballkleider vorgeführt hatte, die Spaliere aufgebrochener Briefkästen und die öffentlichen Bekanntmachungen an den Wänden. Der Kronleuchter war noch da, zerbrechlich und nackt, vor langer Zeit aller Kristalle beraubt. Drei Vierzig-Watt-Funzeln bemühten sich, den großen Raum zu erhellen. Im Mosaikfußboden fehlten Fliesen, waren zerbrochen oder stümperhaft mit Zement geflickt worden, und hinter der prächtigen Vertäfelung brummten und knisterten defekte Schaltungen.
Sie war in ein Paris zurückgekehrt, das weiter entfernt war denn je. Es existierte nicht einmal mehr in ihrer Vorstellung. Mit dem Verlust dieser Vision verlor sie auch den Irrsinn, dem sie ihre geistige Klarheit verdankt hatte. Wie Leo sagte: »Nicht die Phantasiewelt ist der Irrsinn, denn sie war in ihrer Phantasiewelt jahrelang sehr glücklich – genau wie wir alle, nehme ich an. Nein, der Irrsinn besteht in der Kluft zwischen Phantasiewelt und Wirklichkeit, und wenn man in dieser Kluft steckt, ist man von beidem abgeschnitten. Dann gibt es kein Entkommen mehr.«
ACHT
Der Erste Mai war im gesamten Ostblock ein Feiertag. In Rumänien diente er als Vorwand für eine genau geplante Demonstration spontaner Feierfreude. Die Proben hatten während der vergangenen Woche drei Abende in Anspruch genommen; die Arbeiter hatten ihre Spontaneität unter den düsteren Blicken der Polizisten eingeübt. Als der Tag schließlich anbrach, wurden ausnahmsweise überall in der Stadt die Bauarbeiten eingestellt. Am Vormittag hängte man Plakate und Banner mit der Trikolore auf; die Kioske hielten Berge von Rocola, Bier und Würstchen bereit; in den Zeitungsläden lagen Feiertagsausgaben der Scînteia . »Ein wahres Bacchanal«, murmelte Leo mit ironischer Ehrfurcht, während er die Vorbereitungen beobachtete. Banner priesen die Freude an der Arbeit, das Glück des Familienlebens, die Achtung, die man im Ausland genoss. Egal, was man sah, egal, was man hörte, immer kam der gute alte rhetorische Dreisatz zur Anwendung: Volk, Partei, Ceaușescu! Frieden, Wohlstand, Fülle! Und Leos Lieblingsslogan: Ära des Lichts, der Würde, der Freude!
Leo, Ioana und ich saßen auf dem Balkon, rauchten Gras und tranken. Drinnen lief stumm der Fernseher, draußen dröhnte die Parade: patriotische Musik, ein pompöser Einheitsbrei, der in jedem Land gleich klang. Leo hatte Likörpralinen entdeckt, auf einem Tablett arrangiert und mit der großen Geste eines Gesandten präsentiert. Er war schon blau und schmetterte kommunistische Parteilieder, einen Joint zwischen Daumen
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