Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
Vom Netzwerk:
Seitdem hatten sich Leos Gewohnheiten geändert. Wenn er auf dem Schwarzmarkt ein Geschäft machte, zweigte er einen Teil des Gewinns für Petre und dessen Freunde ab, kaufte Schulbücher und Grundnahrungsmittel wie Mehl, Zucker, Konserven. Seine Geschäftspartner meckerten: Das Zeug sei zu schwer, zu billig, werfe keinen Gewinn ab. Warum bleibe er nicht bei Whisky und Uhren, bei den leicht zu transportierenden und zu verkaufenden Luxusgütern, für die reiche Parteibosse so gut bezahlten? Leo haute Käufer von Medikamenten über das Ohr oder bestellte beim Lieferanten mehr davon, um etwas für Petre zurückhalten zu können. Dieser hatte Leos Geschäftsgebaren verändert, bot seiner sprunghaften, chaotischen Güte, die so oft in die Irre ging oder sich in einem Labyrinth der Tricksereien verlor, ein lohnendes Ziel. Ich war für Petre und seine Freunde der Mittelsmann, und ich hatte durch diese Rolle zum ersten Mal das Gefühl, wirklich am Bukarester Leben teilzunehmen. Ich organisierte Abholungen und Anlieferungen, verteilte Botschaften, kontrollierte Tauschgeschäfte und Zahlungen. Petres Sozialfonds nahm langsam Gestalt an. Er hatte Leos Schachereien, das Geld der Flüchtlinge und die ekelhaften Umstände des korrupten Polizeistaats immer noch nötig. Aber nicht mehr lange. Dies seien die Anfangsinvestitionen, sagte er, und man müsse sie zahlen, um Zeit erkaufen und die Fundamente für den Sozialfonds legen zu können. Vintul war es, der alles verwaltete – Vintul war der Banker.
    Ich verbrachte immer mehr Zeit mit Petre. Vielleicht war Leo beleidigt, aber er machte mir keine Vorwürfe. Seine Welt des Capsia und der Cocktails und des Bukarests des Fin de Siècle mit dem schäbigen Luxus und den schalen Sausen fand ich inzwischen zu erlesen. Dazu kam, dass ich durch Trofim, Leo, Petre und Cilea in vier verschiedenen Städten und vier verschiedenen Epochen lebte. Berührungspunkte gab es nur durch mich, aber ich trennte alles so genau voneinander, dass meine Lebenswelten nicht zueinanderfanden.
    Ich lebte gleichsam in geselliger Isolation, begab mich von einem zum anderen, ließ alles parallel laufen: Trofims Buch, Cileas Bett, Leos Schwarzmarkt, Petres Konzerte … Was übrig blieb, wenn ich sie alle von meinem Leben abzog, war vermutlich ich selbst.
    »Petre ist irgendwie … unwirklich, findest du nicht auch?«, fragte Leo eines Tages und fügte hinzu: »Er hat etwas … Flüchtiges.« Vielleicht, dachte ich, als ich mir im Otopeni-Flughafen vor Augen führte, was ich zurückließ. Vielleicht. Petre war zwar sehr wirklich, aber ich wusste, was Leo meinte – das vage Gefühl, dass er etwas verschwieg, egal wie gut man ihn kannte, egal wie viel Vertrauen er einem schenkte – nicht weil er etwas zu verbergen hatte, sondern weil man seine Persönlichkeit nie ganz erfasste.
    Dann war da noch Cilea. Unsere Beziehung war eher locker; welche Folgen würde meine zweiwöchige Abwesenheit für uns haben?
    Ich hatte Angst vor der Heimkehr, fürchtete mich vor den endlos langen Tagen im unbewohnten Haus, dem Mief von vergorener Stagnation, verklebten Teppichen, gerauchten Zigaretten. Denn mehr war vom Atem meiner Eltern nicht mehr übrig … Dazu die Dinge: die eingedrückten Kissen, auf denen ihre nun eingeäscherten Körper gesessen hatten; die ausgetretenen Hausschuhe unter dem Telefontisch mit dem fast leeren Adressbuch, dessen Seiten einen Ausblick auf ihr einsames Leben boten. Larkins Gedicht – wie hieß es gleich? – »Home is so sad«: »It stays as it was left / Shaped to the comfort of the last to go …« Die tiefe, überwältigende Traurigkeit, die all das auslöste … Ich roch sie jetzt schon, oder besser: Ich bekam schon hier einen Vorgeschmack auf das Gefühl der Vergänglichkeit.
    »Bedenken, was?« Leo hatte mich durchschaut, und mir wurde bewusst, dass ich minutenlang geschwiegen hatte. »Immerhin ist es dein Zuhause«, sagte er, als wollte er mich ermutigen.
    Nach der Landung des Flugzeugs aus Belgrad rauschte eine Gruppe aus der VIP-Lounge, angeführt von einem bulligen, einst muskulösen, nun dicklichen Mann im schwarzen Anzug, flankiert von Untergebenen und gefolgt von jungen, schmalen, argusäugigen Leibwächtern im üblichen Anzug der Securitate und mit einer Pistole, die sich auf der linken Brustseite abzeichnete. Ihre Schlaghosen waren kein Ausdruck von Retroschick, sondern sollten das Ziehen der zweiten, an der Wade befestigten Waffe erleichtern. Der Mann an der Spitze der Gruppe, dem der

Weitere Kostenlose Bücher