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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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eindeutig das Kommando hatte. Alle warteten auf ihn, sahen ihn an, als würden sie erwarten, dass er ihnen zu verstehen gab, wann sie gehen, anhalten oder Hände schütteln mussten. Stoicu trat auf den roten Teppich und umarmte ihn als ersten.
    Man hatte zur Begrüßung nicht die übliche jugoslawische Flagge gehisst. Anstelle des roten Sterns hatte diese in der Mitte ein Wappen: zwei einander zugewandte weiße Adler, die der Tätowierung des jungen Mannes glichen.
    »Serben«, sagte Leo mehr zu sich selbst. »Die serbische Flagge. Seit Titos Tod sieht man sie überall … Das ist kein offizieller Besuch. Kein Angehöriger der jugoslawischen Botschaft ist zur Begrüßung erschienen.«
    Man führte die Gruppe durch einen leeren Zollschalter und von dort in die VIP-Lounge. Wie auf ein Signal hin wurden zwei Servierwagen mit üppigen Kanapees und Kuchen aus dem Flughafenrestaurant in die Lounge geschoben.
    »Gut – ich verschwinde und versuche etwas über diese Leute herauszufinden, ein paar Dinge abzuchecken. Gute Reise!« Leo war plötzlich sehr geschäftsmäßig und wollte schnell weg.
    Ich fühlte mich matt, spielte auf Zeit, schlug vor, noch einen zu trinken. Mein Flug ging erst in einer Stunde, und ich wollte in diesem öden Flughafen nicht allein sein. Alle Leute, die sich hier aufhielten, waren mich sich selbst beschäftigt, die Linien ihrer Leben zogen sich wie Flugrouten rund um den Globus.
    Leo nutzte seine Chance. »Du willst gar nicht fliegen, oder? Genau wie ich vor meinem ersten Heimflug – ich kam her, checkte ein, saß eine Stunde herum und kehrte wieder um.«
    »Na gut. Du hast gewonnen, Leo. Fahr mich nach Hause.«
    »Nach Hause! Nach Hause? Tja, das hast du gesagt!« Leo klatschte hocherfreut in die Hände.
    Ich versuchte meinen Koffer zurückzubekommen, aber der Angestellte am Schalter wollte meine Bitte nicht verstehen. Egal – mein halb leerer Koffer würde im Laderaum hin und her poltern und schließlich im Licht von Heathrow auf dem Gepäckband seine Kreise ziehen. Nach einigen Stunden würde man ihn ins Fundbüro bringen, wo er mit seinen Schicksalsgenossen der Abholung harren würde. Ich versuchte, seinem Weg in Gedanken zu folgen. Was passierte mit verlorenen Gegenständen? Würde man ihn wiederverwenden oder wegwerfen? Als Kind hatte es mich immer fasziniert, dass nichts verschwand – bis ich begriff, dass eines doch verschwindet: der Mensch selbst. Seine Kleider, Schuhe, dritten Zähne, Koffer und Taschen leben weiter, ob auf Mülldeponien, ob verbrannt oder gepresst, geschreddert oder verschrottet. Doch der dazugehörige Mensch? Er verschwindet einfach.
    Diesem Verschwinden hätte ich mich bei meiner Heimkehr stellen müssen. Ich konnte es nicht aus der Welt schaffen, aber vielleicht half mir Bukarest, indem es seine Tragödien und Probleme zwischen mich und mein Leben schaltete. Bei Leo hatte das funktioniert. Warum nicht auch bei mir?
    Ich hatte Tränen in den Augen, drängte sie aber zurück. Leo sagte nichts, sondern führte mich sanft zum Auto. Wir kamen an der Straßensperre und an wütend gestikulierenden Ausländern vorbei, die das erste und einzige Gesetz des kommunistischen Schlangestehens noch lernen mussten: Es war wie in Treibsand – je wilder man dagegen ankämpfte, desto schneller versank man.
    Ich fragte mich, ob ich mich durch mein Bleiben vor einer Konfrontation gedrückt hatte. Leo hielt vor der Universität und sah mich an: »Nein. Das ist Küchenpsychologie – all das Gerede von der ›Auseinandersetzung mit der Vergangenheit‹, dieser ganze Mist über das ›Abschließen‹ und so weiter. Es gibt kein Gesetz, das von dir verlangt, dich immer wieder der Vergangenheit zuzuwenden, keines, das dir vorschreibt, dich mit etwas auseinandersetzen zu müssen . Dein früheres Leben besitzt dich nicht. Das behaupten nur Psychologen, Gurus und Talkshow-Klugscheißer. Ein fieser Trick, der dich an die Vergangenheit ketten soll. Nein, nein – du kannst aufstehen und gehen, wann immer du willst. Glaub mir: Du musst immer weitergehen, und wenn du je zu einem Stillstand gezwungen wirst, lauf auf der Stelle.« Leo O’Heix, Lifestyle-Guru.
    Ionescu erlaubte mir, sein Faxgerät zu benutzen, das einzige im gesamten Gebäude mit Anschluss an die weite Welt. Ich bat den Notar und die Firma Deadman, zu verkaufen, was von Wert war, und alles übrige zu entsorgen.
    Wieder im Büro, blätterte ich in den Unterlagen und schaltete den Ventilator ein, der mir kühle Luft ins Gesicht

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