Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
ungefähre Richtung nach Hause ein. Nachdem ich fünf Minuten fast gerannt war, stützte ich mich an einer Hausecke ab. In der Ferne schwollen die Sirenen der Motorkade an. Ich setzte mich in den Eingang einer geschlossenen Bäckerei und bettete die Stirn auf die Knie.
Wahrscheinlich sah ich aus wie irgendein Passant, der zu viel gearbeitet oder getrunken hatte, vielleicht auch wie jemand, der nach der Frühschicht auf einen Anschluss wartete. Aber mein Kopf schwirrte, und mein Magen spielte verrückt. Ich schwitzte meine Kleider durch.
Ein brutaler Tritt gegen den Oberschenkel riss mich aus der Übelkeit: knöchelhohe Schnürstiefel, Reithose. Die übliche Kluft der Securitate. Ein junger Mann beugte sich über mich, blendete die Sonne aus und reckte einen Daumen, eine Geste, die zweifellos aus einer amerikanischen Krimiserie stammte, in der bärbeißige Cops in der Bronx Kleinkriminelle aufmischten. Vielleicht sah er auch Kojak . Aber er trug wenigstens die richtigen Klamotten. Ich versuchte, auf die Beine zu kommen, aber meine Beine zitterten, und nach seinem Tritt waren meine Muskeln taub. Er prüfte meinen Ausweis.
»Aufmachen«, sagte er auf Englisch und zeigte auf meine Tasche.
»Universitätsunterlagen«, erwiderte ich auf Rumänisch. Ich war benommen, und die heulenden Sirenen brachten mich aus dem Konzept.
»Aufmachen.«
Ich öffnete die Tasche und ließ Trofims Manuskript so hinausgleiten, dass nur die Rückseiten zu sehen waren. Der Mann griff in die Tasche, tastete darin herum und wollte gerade die Papiere zur Hand nehmen, als plötzlich knisternde Stimmen aus seinem Funkgerät drangen. Er ließ die Papiere fallen und gab einsilbig zu verstehen, dass er verstanden habe. Ich schloss die Tasche und wollte gehen, doch er packte mich bei der Schulter und zog mich zurück, deutete mit Zeigefinger und Mittelfinger erst auf seine Augen, dann auf mich: Wir observieren dich . Er war schmal, hatte spitze Züge, war nicht viel älter als ich, aber einen Kopf kleiner. Ein Fußsoldat der Securitate. Man holte sie als ältere Jugendliche aus staatlichen Waisenhäusern und bildete sie in Kampf und Überwachung aus. Alles, was sie waren, verdankten sie dem Staat. Mir war sogar in meinem Zustand bewusst, dass er ein ausgebildeter Killer war – das sah man an den leeren Augen, dem ausdruckslosen Blick, unzureichend verhüllt von der sprunghaften, paranoiden Erregtheit, die als Lebendigkeit galt.
Ich entfernte mich so rasch wie möglich. Mein Herz schlug so wild, dass mein Kopf noch mehr schwirrte. Waren seit dem Sirenengeheul tatsächlich erst zehn Minuten vergangen? Ich hatte das Gefühl, wie in Zeitlupe durch Sirup zu waten; jeder Schritt schien träge, klebrig, unwirklich zu sein. An der Kreuzung stand noch mehr Securitate, das von Autoreifen abgefahrene Kopfsteinplaster reflektierte den Sonnenschein. Das fahle Nachmittagslicht hellte sich auf, und die Farben, wie von einem schmutzigen Prisma gebrochen, traten deutlicher hervor. Ich taumelte mit schwerem Kopf am Rand des Bürgersteigs, torkelte in einen Ladeneingang und erbrach mich ein zweites Mal. Nachdem sich mein Magen mehrmals schmerzhaft verkrampft hatte, war er endlich leer. Ich fühlte mich wie ausgewrungen, spürte, wie mein Körper austrocknete, wie sich die Haut straffte.
Ich lief durch die Seitenstraßen. Das war ein Umweg, aber so vermied ich die Straßensperren. Die Sirenen waren verstummt, obwohl noch keine Autos vorbeigefahren waren. Offenbar hatte man das ganze Viertel abgesperrt, nicht nur die Straßen, die der Genosse oder seine Doppelgänger benutzten. Dann dröhnten Motoren hinter mir, und Reifen rauschten über den klebrigen Asphalt der Einbahnstraße. Die Motorkade. Vier schwarze Dacias, die mit Tempo siebzig oder achtzig und mit viel Gehupe durch die schmale Straße donnerten. Ich sprang beiseite und fiel zu Boden. Der Riemen der Tasche schnitt in meinen Hals. Das erste Auto brauste vorbei, dann das zweite. Während ich auf die Beine kam, war ich kurz auf Augenhöhe mit dem hinteren Fenster des dritten Autos und erblickte hinter der getönten Scheibe ein verblüfft dreinschauendes Paar kleiner Augen, das verkniffene Gesicht, die gespitzten Lippen des Genossen. Er winkte mir unsicher, verdeckte dabei halb sein Gesicht. War es der echte Ceaușescu oder ein Doppelgänger?
VIERZEHN
Leo fand mich im Wohnzimmer, »auf dem Fußboden ausgestreckt wie ein vertrockneter Seestern«, und holte Ottilia. Nun beugte sie sich mit einem
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