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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick McGuinness
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werde im Park am gewohnten Ort wie üblich über Schachzügen brüten. Wenn ich nicht dort bin, wissen Sie, wo Sie mich finden. Mit herzlichen Grüßen, Ihr Freund Sergiu Trofim …
    Trofim hinterließ Nachrichten wie Briefe. Er begann mit einer Anrede, formulierte druckreif, schloss mit besten Wünschen und Namen. Ich hatte diese Nachricht im Fieber als gehässigen Geheimcode aufgefasst.
    »Ich muss mit Trofim sprechen«, sagte ich zu Leo. »Und zwar dringend … Er hat seit fast einer Woche nichts mehr von mir gehört, aber ich habe noch etwas von ihm.« Meine Tasche hing schlaff am Türgriff. Sie war offen. Ich warf einen Blick hinein – Ausdruck und Diskette fehlten.
    »Schon erledigt«, sagte Leo träge. »Wo wird er sein Buch wohl präsentieren? Im Capsia? Im Festsaal seines ehemaligen Ministeriums? In einer mit acht Häftlingen belegten Zweierzelle im Knast von Jilava? Er ist immerhin ein Zögling des Systems.« Ich war verblüfft. Trofim hatte zwar vor Leo nichts geheim gehalten, ließ aber selbst enge Freunde im unklaren darüber, was er schrieb, wie er damit vorankam, wo es veröffentlicht werden sollte. Nicht einmal ich war ganz im Bilde, wusste aber, dass er über einen Bekannten in der belgischen Botschaft Kontakt mit einem französischen Verleger aufgenommen hatte. Trofim sorgte dafür, dass sich niemand ein Gesamtbild machen konnte – er verstreute die Einzelheiten wie Puzzleteile auf die Stadt, auf verschiedene Sprachen und soziale Sphären.
    Trofim hatte mir einen alten Gedichtband von Tudor Arghezi dagelassen, der Lieblingsdichter sowohl von ihm als auch von Ionescu. Der Band war von Arghezi signiert, und ein Kärtchen mit Trofims Namen und besten Empfehlungen der Vereinten Nationen steckte darin. Während Leo in der Küche ein Mittagessen zusammenrührte, überflog ich die Gedichte. Nicht die Wörter faszinierten mich – ich war zu müde und unkonzentriert zum genauen Lesen –, sondern die vergilbten Seiten, die nicht einrissen, sondern zerfielen und zerbrachen. Sie hatten die Textur von Reispapier, fransten an den Rändern aus wie Flügel von Motten, die unablässig gegen Lampen und Fenster angeflogen waren. Wenn ich umblätterte, stieg ein stickiger, beißender Staub auf, der sich in meiner Kehle verfing und in den Augen brannte.
    Tudor Arghezi … Im Ersten Weltkrieg Kollaborateur, im Zweiten Antifaschist, während der Stalinzeit Dissident und während der Ära von Gheorghiu Dej Nationaldichter. Nach 1945 war er von den Stalinisten an den Pranger gestellt worden. In einem Artikel in der Scînteia , betitelt mit »Der Dichter des Verfalls und der Verfall der Dichtung«, wurde er als Barde der Bourgeoisie, als Dicher von Siechtum und Dekadenz geschmäht; man nannte ihn »pathologisch« und »pervers«, beschimpfte ihn als »degeneriert«. All das hatte ich in Trofims Memoiren gelesen. Trofim hatte Arghezi flüchtig gekannt, anfangs als dessen Verfolger, später als derjenige, der ihn rehabilitiert hatte, immer jedoch als glühender Bewunderer. Er kannte Arghezis Gedichte auswendig, obwohl er als Politbüromitglied für die »kritische Neubewertung« des Dichters zuständig gewesen war, die Arghezis Ausschluss aus dem Schriftstellerverband und das Verbot seiner Dichtung zur Folge gehabt hatte.
    Trofims Memoiren – die echten, nicht die gefälschten, die er für den Staatsverlag schrieb – enthielten ein Kapitel, in dem er erzählte, wie der alte, in Ungnade gefallene Dichter nach dem Krieg auf der Strada Martisor seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Kirschen aus seinem Bukarester Garten bestritt. Trofim hatte den Dichter, der auf einer Trittleiter am Straßenrand gesessen hatte, eines Tages aufgesucht, um Kirschen zu kaufen. Der alte Dichter wusste nicht, dass einer seiner Plagegeister vor ihm stand, denn man konnte das Böse schon damals, wie Trofim sich ausdrückte, »ferngesteuert« bewerkstelligen. Ich verachtete mich selbst , hatte Trofim geschrieben, und ich weiß nicht, was er in mir wahrnahm – vielleicht gar nichts, denn was wusste er schon? –, aber er förderte mit seinen klugen und wissenden Augen all meine Schuldgefühle, meinen ganzen Selbsthass zutage. Außerdem feilschte er hartnäckig – ich bezahlte doppelt so viel wie üblich. Er wusste, dass ich mich schuldig gemacht hatte. Wessen, war ihm gleich. Er wusste es einfach.
    Trofim hatte einen der Kirschkerne in seinem Garten in Herastrau in die Erde gesetzt. Der daraus entsprossene Baum hatte es im Laufe von vierzig

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