Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Sie trug noch Arbeitskleidung, duftete aber nach Seife und geschrubbter Haut. Als sie sich über mich beugte, um das Oberbett auf der anderen Seite festzustecken, streiften ihre Haare mein Gesicht. Ich roch den zarten Duft einer Blume, wußte aber nicht, von welcher. Ich öffnete die Augen. Ottilia merkte dies und strich meine Lider sanft wieder zu. Kurz darauf hörte ich ein Flüstern im Nebenzimmer und das Zuschnappen des Riegels der Wohnungstür, als Leo aufbrach, um Ottilia nach Hause zu fahren.
In dieser Nacht träumte ich von einem Abschnitt aus Trofims Buch, als hätte ich alles selbst erlebt. Ich erinnerte mich Wort für Wort daran. Ich hatte den Abschnitt getippt und ihn dabei offenbar in allen Details, in all seiner kalten, traurigen Schönheit verinnerlicht. Es handelte sich um die von Trofim so genannte Epiphanie des Pragmatismus aus der Zeit, in der er sich für den Stalinismus entschieden hatte. Damals hatte er mit Freunden und Verbündeten gebrochen und sich selbst umgekrempelt, hatte bei den Säuberungen mitgemacht und war rasch aufgestiegen.
Die Erleuchtung war ihm gekommen, als er 1951 für ein Treffen mit Stalin nach Moskau geflogen war: Ich schaute aus dem Fenster: die sterbende Sonne hinter ihrer Eiswand, die Wolkenfelder, die brennende Kälte, der Druck der Leere, der das Flugzeug sicher in der Luft hielt und es zugleich zu zerstören drohte … »Ein geregeltes Vakuum«, sagte ich mir. »Mehr gibt es nicht, und mehr gab es nie.« Wenn ich während der folgenden Jahrzehnte im Flugzeug saß, ob bei einem Inlandsflug der TAROM oder in Kissingers Privatjet, wurde ich stets daran erinnert … »Mehr gibt es nicht.« Das glaube ich bis heute. Trotzdem würde ich vieles, was ich aufgrund dieser Erkenntnis tat, nicht noch einmal tun oder ungeschehen machen, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte.
Leo kehrte erst um neun Uhr morgens zurück. »Tut mir leid, dass ich die ganze Nacht weg war. Ich wurde aufgehalten. Wir haben erfahren, dass Sankt Paraschiva, die alte Kirche in Lipscani, abgerissen werden sollte. Ottilia ist mitgefahren – sie wollte sich das auch anschauen. Bei unserem Eintreffen hatten die Abrissbirnen schon alles erledigt, aber ich habe ein paar Aufnahmen gemacht.«
Leo legte ein Video ein: In der dunstigen Dämmerung rissen Männer mit Zangen Kupferstreifen von einer Kuppel, die wie eine riesige Schildkröte inmitten der Trümmer stand. Die verwackelte, verschwommene Aufnahme war von einem nahen Gebäude gemacht worden, durch ein Fenster, dessen Rahmen immer wieder ins Bild kam. Lkw rollten lautlos heran und wieder davon, während hinter den Ruinen eine geisterhafte Sonne aufstieg. Nach einigen Minuten wurde plötzlich eine Hand vor das Objektiv gelegt. Dann war Schluss. Leo holte das Video heraus und schob es in seine Kassette: Chuck Norris’ Missing in Action .
Eine Woche später wurde ich zum ersten Mal wieder von Cilea besucht. Ich verbrachte immer noch die meiste Zeit im Bett. Leo hatte meine Erkrankung ausgenutzt, um sich in meiner Wohnung einzunisten, Ottilia kam fast täglich, meist vormittags vor ihrer Krankenhausschicht, und Trofim besuchte mich zweimal. Es passte ihm gar nicht, dass er die Arbeit an seinen Memoiren unterbrechen musste; außerdem hatte man seine Sekretärin mit der Zementfrisur durch einen braven Parteigenossen und Computerkenner namens Hadrian (»Der Wall«) Vintile ersetzt, der jede neue Datei löschte und die einzige Kopie abends mitnahm. Das Projekt hatte zum ersten Mal etwas Dringliches – die Zeit schien uns davonzurennen.
Cilea brachte Schokolade, Blumen, eine dicke Ananas mit fleischigen Blättern und einen Zerstäuber mit dem Eau de Cologne ihres Vaters mit, der offenbar eine wohlriechende Genesungszeit garantieren sollte. Ich fragte sie, warum sie mit ihrem Besuch fast zehn Tage gewartet habe.
»Du warst gut versorgt. Ich hätte nur gestört. Ich habe gemerkt, dass du in guten Händen bist, und wollte erst kommen, wenn es dir wieder bessergeht.« Sie setzte sich auf das Fußende des Bettes, ihr Duft vermischte sich mit dem chemischen Geruch im Zimmer. Als sie eine Pall Mall anzündete, fiel mir auf, dass sie ihre Fingernägel lackiert hatte. Sie pustete den Rauch aus dem Fenster, ein Zugeständnis an die Krankenhausatmosphäre. Sie trug die gleichen Kleider wie bei unserer ersten Begegnung, frisch gebügeltes weißes Hemd, Jeans und Sonnenbrille, die oben in ihrem Haare steckte, und sie wirkte noch braun gebrannter als sonst. Entweder hatte
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