Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit
kümmern.«
»Aber … wohin gehen wir?«
»Nach unten. Das hier ist die alte Treppe, die die Bediensteten früher benutzt haben.«
Helen schloss die Tür hinter uns und richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf die gewundene Treppe. Die Stufen waren so schmal, dass es beinahe den Anschein hatte, als wären sie in eine Lücke zwischen den Mauern gequetscht worden, wie eine Leiter, die man in eine dunkle Grube hält.
»Das soll wohl ein Witz sein.« Ich wollte es Helen gegenüber wirklich nicht zugeben, aber abgeschlossene, dunkle Räume hatten mir schon immer Angst eingejagt. »Da gehe ich nicht runter.«
»Es ist vollkommen sicher. Oder willst du lieber mit Celeste zusammen gehen?«
Sie machte sich auf den Weg, und das Licht hüpfte vor ihr auf und ab.
»Helen! Warte!«
Ich hastete hinter ihr her die schiefen Stufen hinunter, versuchte, nicht daran zu denken, dass Mauern mich umschlossen. Nach ein paar Biegungen erreichten wir einen anderen dunklen Absatz.
»Das hier ist das Stockwerk der Angestellten«, sagte Helen. »Geh weiter.«
Schließlich kamen wir am Boden an und traten in einen feuchten, verlassenen Gang. Helen ließ das Licht über die von Spinnenweben bedeckten Mauern wandern.
»Also, wo genau sind wir jetzt?«, fragte ich und hoffte, dass wir von dort, wo immer es auch war, so rasch wie möglich wieder wegkamen.
»Vor langer Zeit, als die Abbey noch ein Privathaus gewesen ist, waren das hier die Unterkünfte der Bediensteten. Wenn man durch diese Tür da geht, kommt man zurück zum Haupttrakt der Schule, in der Nähe der Marmorstufen, aber wenn man diesem Gang in die andere Richtung folgt, kommt man zu den alten Küchen und den Ställen. Mir gefällt es hier. Ich zeige es dir, wenn du willst.«
Das Letzte, was ich wollte, war irgendein lausiges Hinterzimmer auszukundschaften, das seit mindestens hundert Jahren niemand mehr benutzt hatte. Helen schien jedoch ganz verzaubert von diesem Ort zu sein, und mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, als sie weiter in den alten Flügel der Bediensteten hineinmarschierte. Hier waren die Wände überall in bedrückenden dunklen Brauntönen bemalt, und auf allem lag eine dicke Staubschicht. Ich war mir sicher, dass ich in den Wänden Mäuse rascheln hören konnte. Mir reichte es. Ich wollte Helen gerade auffordern umzukehren, als ich in einem Mahagoni-Gestell alte Glocken sah. Darunter befanden sich verblasste Schilder, auf denen Bezeichnungen standen wie: Zeichensaal, Blauer Salon, Billardzimmer.
»Wofür waren die?«
»Wenn die Glocken geläutet wurden, wussten die Bediensteten, in welchem Raum sie benötigt wurden. Die Dienerinnen, von denen einige noch jünger waren als wir, mussten hundertmal am Tag diese Treppen hoch- und runterrennen. Es war ihnen natürlich nicht gestattet, die Marmortreppe zu benutzen. Die blieb den Templetons vorbehalten.«
»Den Templetons? Wer war das?«
»Die Leute, denen das Anwesen hier mal gehört hat.«
Helen öffnete die Tür zu einer verlassenen Küche. »Hier müssen die Bediensteten gearbeitet haben.« Sie sah sich um. »Kannst du ihre Stimmen nicht hören?«
Allmählich begann sie mir wirklich auf die Nerven zu gehen. Ich hatte kein Bedürfnis danach, die Stimmen von irgendwelchen toten viktorianischen Dienerinnen zu hören, egal, wie sehr Helen sich auch dafür begeisterte. Mir kam es so vor, als würde mein Herz langsamer schlagen, und da war wieder das eigenartige, bedrückende Gefühl, beobachtet zu werden. Geflüster und Geheimnisse schienen in meinem Kopf zu vibrieren …
In diesem Augenblick läutete irgendwo in der Ferne eine Glocke, und ich zuckte zusammen. Helen blinzelte.
»Das ist die Frühstücks-Glocke. Wir dürfen nicht zu spät kommen!« Sie schoss den Gang zurück, der zum Haupttrakt führte. »Komm! Beeil dich!«
Ich musste mich anstrengen, um mit ihren langen Beinen Schritt zu halten, und ein paar Minuten später hatten wir die alte Treppe der Bediensteten wieder erreicht. Helen öffnete eine Tür, die ganz in der Nähe der Marmortreppe zum großen Korridor führte. Links von uns waren leise Schritte zu h?ren, die sich in Richtung Speisesaal entfernten. Wir beeilten uns, sie einzuholen, aber wir waren zu sp?t. Als wir ger?tet und au?er Atem den Speisesaal betraten, standen die M?dchen bereits in langen Reihen an den Tischen. Mrs. Hartle befand sich am Tisch des Lehrpersonals und sprach das Tischgebet. Helen
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