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Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit

Titel: Die Abtei von Wyldcliffe - Die Schwestern der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gillian Shields
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Aufführung von Macbeth zu sehen waren.
      »Setz dich irgendwo hin, wo noch ein Platz frei ist.«
      In der Klasse waren etwa zwanzig Mädchen. Ich freute mich, als ich Sarah ganz hinten sitzen sah. Zumindest hatte sie ein freundliches Gesicht. Sie lächelte mich an, während die Blicke der anderen zu der scharlachroten Karte huschten, die ich nach wie vor in der Hand hielt. Dann wandten sie sich ab, als wollten sie mit meiner Schande nichts zu tun haben. Ich sah, dass der Tisch neben Helen noch frei war. Also setzte ich mich dort hin und tat so, als würde ich mich mit meinem Notizbuch und den Stiften beschäftigen.
      Es herrschte eine intensive Arbeitsatmosphäre voller Lerneifer, was völlig anders war als die lockere und leichte Art des Unterrichts, den ich von zu Hause gewöhnt war. Miss Scratton unterrichtete Englisch und Geschichte, und trotz ihrer ausdruckslosen und langweiligen Stimme war sie eine hervorragende Lehrerin. Irgendwann stellte ich fest, dass es mir richtig Spaß machte, und ich wollte die Argumente und Theorien verstehen, die sie uns vorstellte. Es war eine Erleichterung, mich in die Arbeit vertiefen und alles andere vergessen zu können. Ich beugte mich über meine Bücher und ließ mich ganz und gar von dem einfangen, was ich las. Als ich irgendwann wieder aufsah, bekam ich den größten Schock meines Lebens.
      Das Zimmer hatte sich verändert.
      Oh, ich spreche nicht von den weißgetünchten Mauern und den Fenstern mit ihren Butzenscheiben – die waren noch genauso wie vorher. Und das Zimmer war auch immer noch ein Klassenzimmer, allerdings fehlten jetzt die Tischreihen und die Mädchen in ihrer dunklen Schultracht. Stattdessen sah ich einen großen, blankpolierten Tisch, auf dem sich alle m?glichen Papiere und schweren B?cher stapelten. Antiquierte M?bel und ein gro?er Globus auf einem Gestell standen in dem Zimmer, und eine mollige Frau mittleren Alters mit ger?teten Wangen und in einem ?bertrieben ordentlichen Kleid wies gerade ihre einzige Sch?lerin, ein wei?gekleidetes M?dchen, auf etwas hin, das sie auf dem Globus sah.
      Das Mädchen hatte graue Augen, die aufmerksam und lebendig waren, und ihre kastanienbraunen Locken waren mit einem schwarzen Band zurückgebunden. Ich musste unwillkürlich an das schemenhafte Mädchen denken, das ich in der Nacht zuvor im Spiegel gesehen hatte. Dieses Mädchen allerdings war wirklich, es war keine Spiegelung wie die Vision einer längst verlorenen Schwester in einem Leben, an das ich mich nur vage erinnerte. Aber ich hatte keine Schwester, ich hatte nie eine Schwester gehabt … Während ich sie beobachtete, hörte ich plötzlich das Fauchen eines Feuers und sah das blendende Licht klarer, weißer Flammen. Ich schrie auf, und dann hatte ich das Gefühl, als würde ich mich auflösen, im Nichts vergehen.
      Als ich wieder zu mir kam, lag ich zusammengesackt auf meinem Tisch. Helen beugte sich über mich, aber die anderen Mädchen schoben sie beiseite.
      »Was ist mit ihr? Hat sie sich verletzt? Warum hat sie so geschrien?«
      Eine tiefe Stimme machte ihren neugierigen Fragen ein Ende.
      »Evie ist nur ein paar Sekunden ohnmächtig gewesen, weiter nichts«, sagte Miss Scratton. »Umringt sie nicht so. Setzt euch wieder auf eure Plätze und arbeitet leise weiter. ? Miss Scratton tastete nach meinem Puls und runzelte die Stirn. ?Bist du fr?her schon mal ohnm?chtig geworden? ?
      Ich dachte verwirrt daran, wie ich mit dem Jungen und seinem Pferd zusammengestoßen war, aber ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht mehr erkennen, was wirklich war und was nur ein Tagtraum.
      »Mir war etwas schwindelig, das ist alles«, murmelte ich.
      »Nun, du gehst besser etwas nach draußen. Hier drin ist es ziemlich stickig.« Sie sah Helen kurz an, zögerte einen Sekundenbruchteil und sagte dann: »Sarah, geh mit Evie nach draußen, und zeig ihr das Gelände. An der frischen Luft wird es ihr bald wieder besser gehen.«
      »Komm, Evie«, sagte Sarah. »Machen wir einen Spaziergang. «
      Ihre schlichte Freundlichkeit berührte mich, und Tränen traten mir in die Augen. Ich blinzelte sie weg. Während ich mit Sarah das Klassenzimmer verließ, erinnerte ich mich an das Versprechen, das ich mir selbst gegeben hatte. Niemand, absolut niemand in Wyldcliffe würde mich je weinen sehen.
     

 Sechs
 
 
      
      W ir saßen auf einem Strohballen in dem staubigen, warmen Stall. Sarah lächelte und reichte mir einen Beutel mit Äpfeln. »Ich hebe

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