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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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und ihr Mann – ihr wunderbarer, heldenmütiger Leo – hatten auf diesen Barrikaden gestanden, für einen kurzen und herrlichen Moment als gleichwertige Partner gegen die herrschende Klasse vereint.
    »Nach Louis-Napoleons schändlicher Niederlage in der Schlacht von Sedan«, schnaubte Georges, »rückten die Preußen gegen Paris vor.«
    »Ja«, murmelte sie und fragte sich nicht zum ersten Mal, für wie jung er sie hielt, dass er meinte, ihr Geschichtsvorträge über Ereignisse halten zu müssen, die sie selbst miterlebt hatte.
    »Je länger die Belagerung und der Beschuss andauerten, desto knapper wurden die Lebensmittel. Es war die einzige Möglichkeit, den Kommunarden eine Lehre zu erteilen. Die Folge war natürlich auch, dass viele der besseren Restaurants schließen mussten. Nicht genug zu essen, verstehst du? Spatzen, Katzen, Hunde, alles, was auf den Straßen von Paris kreuchte und fleuchte, galt als Freiwild. Um an Fleisch ranzukommen, wurden selbst die Tiere im Zoo geschlachtet.«
    Marguerite lächelte ermutigend. »Ja, Georges.«
    »Was glauben Sie, was an jenem Abend im Voisin auf der Speisekarte stand?«
    »Ich möchte es mir gar nicht vorstellen«, sagte sie, genau das richtige Maß an Arglosigkeit in den großen Augen. »Ehrlich gesagt, ich traue mich kaum, es auszusprechen. Schlange, vielleicht?«
    »Nein«, sagte er und lachte zufrieden auf. »Raten Sie noch einmal.«
    »Ach, Georges, ich weiß es wirklich nicht. Krokodil?«
    »Elefant«, sagte er triumphierend. »Ein Gericht aus Elefantenrüsseln. Was sagen Sie nun? Eigentlich prächtig. Fürwahr prächtig. Zeugt von einer bravourösen Haltung, finden Sie nicht?«
    »O ja«, pflichtete Marguerite ihm bei und lachte ebenfalls, wenngleich ihre Erinnerung an das Frühjahr 1871 etwas anders aussah. Hunger, Wochen, in denen sie versuchte, zu kämpfen, ihren wilden, idealistischen, leidenschaftlichen Mann zu unterstützen und zugleich genug Nahrung für ihren geliebten Anatole zu finden. Grobes dunkles Brot, Kastanien und Beeren, nachts von den Sträuchern im Jardin des Tuileries gestohlen.
    Als die Kommune fiel, floh Leo und wurde fast zwei Jahre lang von Freunden versteckt. Schließlich wurde auch er gefasst und entging nur knapp dem Erschießungskommando. Über eine Woche lang fragte Marguerite auf jeder Polizeiwache und in jedem Gerichtsgebäude in Paris nach, ehe sie herausfand, dass er bereits im Schnellverfahren abgeurteilt worden war. Sein Name stand auf einer Liste, die an der Wand eines städtischen Gebäudes hing: Deportation in die französische Pazifikkolonie Neukaledonien.
    Die Amnestie der Kommunarden kam für ihn zu spät. Er starb auf der Galeere während der Überfahrt, ohne noch zu erfahren, dass er eine Tochter hatte.
    »Marguerite?«, sagte Du Pont gereizt.
    Marguerite merkte, dass sie zu lange geschwiegen hatte, und setzte eine andere Miene auf.
    »Ich habe nur gerade gedacht, wie extraordinär das gewesen sein muss«, erwiderte sie rasch, »aber es sagt doch allerhand über die Fähigkeiten und den Einfallsreichtum des Kochs im Voisin aus, dass er ein solches Gericht zustande brachte. Wie wundervoll, hier zu sitzen, wo Geschichte gemacht wurde.« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Mit Ihnen.«
    Georges lächelte herablassend. »Am Ende setzt sich Charakterstärke nun mal durch«, sagte er. »Eine schlimme Situation lässt sich irgendwie immer zum eigenen Vorteil nutzen, aber
die
Erfahrung hat die heutige Generation ja noch nie gemacht.«
    »Entschuldigen Sie, dass ich Sie beim Essen störe.«
    Du Pont stand auf, wahrte trotz des Ärgers, der seine Augen verdunkelte, die Form. Marguerite wandte den Kopf und erblickte einen großen, aristokratisch wirkenden Herrn mit vollem dunklem Haar und hoher Stirn. Seine auffällig blauen Augen sahen mit scharfen, nadelspitzen Pupillen zu ihr herab.
    »Monsieur?«, sagte Georges scharf.
    Beim Anblick des Mannes huschte Marguerite eine Erinnerung durch den Kopf, obwohl sie sicher war, ihn nicht zu kennen. Er war ungefähr im selben Alter wie sie und trug die übliche Abendgarderobe, einen schwarzen Anzug, aber überaus gepflegt, der dem starken und beeindruckenden Körper darin schmeichelte. Breite Schultern, ein Mann, der es gewohnt war, sich durchzusetzen. Marguerite schaute kurz auf den Siegelring an seiner linken Hand, suchte nach Hinweisen auf seine Identität. Er hielt einen seidenen Zylinder in der Hand sowie weiße Abendhandschuhe und einen weißen Kaschmirschal, was darauf

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