Die achte Karte
steht, dann finde ich sie.
Ein Geräusch in dem Gang vor der Tür ließ Léonie aufhorchen.
Sofort schob sie das Büchlein auf ihren Schoß. Sie wollte nicht dabei ertappt werden, wie sie einen solchen Text las. Nicht aus Scham, sondern weil es ihr ganz privates Abenteuer war, das sie mit niemandem teilen wollte. Anatole würde sie nur damit aufziehen.
Die Schritte wurden leiser, dann hörte Léonie, wie eine Tür auf der anderen Seite der Halle geschlossen wurde. Sie stand auf, überlegte, ob sie
Les Tarots
mitnehmen sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Tante etwas dagegen hätte, schließlich hatte sie ihnen angeboten, sich wie zu Hause zu fühlen. Und Léonie war sicher, dass der Band nur zum Schutz gegen die schädlichen Auswirkungen von Staub, Zeit und Sonnenlicht in einer Vitrine weggeschlossen gewesen war, nicht weil er etwas Verbotenes darstellte. Sonst hätte man den Schlüssel wohl kaum im Schloss steckenlassen?
Léonie verließ die Bibliothek und nahm den entwendeten Band mit.
Kapitel 37
∞
Paris
V ictor Constant faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben sich auf den Sitz.
Carmen-Mord – Polizei fahndet nach Sohn!
Seine Augen wurden schmal vor Verachtung. »Der Carmen-Mord«. Ihn ärgerte, dass diese Presseleute nach all der Hilfestellung, die er ihnen hatte zuteilwerden lassen, dermaßen berechenbar waren. Marguerite Vernier und Bizets leidenschaftliche und impulsive Heldin hätten im Hinblick auf Charakter und Temperament unterschiedlicher nicht sein können, aber die Oper war verstörend tief ins Bewusstsein der französischen Öffentlichkeit gedrungen. Ein Soldat und ein Messer genügten, und schon drängte sich der Vergleich auf, und die Geschichte wurde gedruckt.
Binnen Stunden war Du Pont in den Zeitungen vom Hauptverdächtigen zum unschuldigen Opfer geworden. Nachdem der Präfekt keine Mordanklage gegen ihn erhoben hatte, war ihr Interesse erwacht, und sie hatten ihre literarischen Netze ein wenig weiter ausgeworfen. Inzwischen hatten die Reporter – nicht zuletzt aufgrund von Constants eigenen Bemühungen – Anatole Vernier im Visier. Er galt zwar noch nicht ganz als Verdächtiger, aber sein unbekannter Aufenthaltsort wurde als verdächtig gesehen. Angeblich konnte die Polizei weder Vernier noch seine Schwester ausfindig machen, um sie von der Tragödie zu unterrichten. Wäre ein Unschuldiger wohl so schwer zu finden?
Und tatsächlich, je mehr Inspektor Thouron bestritt, dass Vernier unter Verdacht stand, desto lauter wurden die Verdächtigungen. Verniers Abwesenheit von Paris wurde de facto zu einer Anwesenheit in der Wohnung am Abend des Mordes.
Es kam Constant zustatten, dass Journalisten faul waren. Wenn man ihnen eine Geschichte anbot, schön ordentlich verpackt, reichten sie sie nahezu unverändert an ihre Leser weiter. Sie kamen gar nicht auf die Idee, die zur Verfügung gestellten Informationen zu überprüfen oder sich selbst der Richtigkeit des dargelegten Sachverhalts zu vergewissern.
Trotz seines Hasses auf Vernier musste Constant zugeben, dass der Dummkopf schlau vorgegangen war. Selbst Constant mit seinen tiefen Taschen und seinem Netz von Spitzeln und Informanten, die Tag und Nacht arbeiteten, hatte zunächst nicht herausfinden können, wohin Vernier und seine Schwester verschwunden waren.
Er schaute gelangweilt zum Fenster hinaus, während der Schnellzug nach Marseille durch die Pariser Vororte gen Süden ratterte. Constant wagte sich nur selten über die
banlieue
hinaus. Ihm missfiel die Aussicht, das gleichförmige Sonnenlicht oder der trübgraue Himmel, der alles unter seinem weiten und hässlichen Blick farblos wirken ließ.
Ihm missfiel die ungebändigte Natur. Er ging seinen Geschäften lieber im Zwielicht künstlich beleuchteter Straßen nach, im Halbdunkel geheimer Zimmer, die ganz altmodisch mit Talg und Wachs erhellt wurden. Frische Luft und freie Räume waren ihm zuwider. Sein Milieu waren die parfümduftenden Theaterkorridore voller junger Frauen mit Federn und Fächern, Séparées in verschwiegenen Klubs.
Letzten Endes hatte er dann doch das Täuschungsmanöver durchschaut, mit dem Vernier seine Abreise verschleiert hatte. Die Nachbarn, denen mit dem ein oder anderen Sou auf die Sprünge geholfen wurde, behaupteten zwar, nichts Genaues zu wissen, aber mit dem, was sie zufällig an Gesprächsfetzen aufgeschnappt hatten oder was ihnen sonst irgendwie zu Ohren gekommen war, konnte Constant den Tag, an dem Vernier aus Paris
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