Die achte Karte
einmal rot bei der spontanen Lüge.
Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, die Kutsche fuhr mit einem Ruck an und rollte die Einfahrt hinunter.
»Wollte Tante Isolde uns nicht begleiten?«, fragte sie laut über den Lärm von Pferdegeschirr und Hufen hinweg.
»Sie muss sich heute um ein paar geschäftliche Angelegenheiten kümmern.«
»Aber die Abendgesellschaft am Samstag findet statt?«
Anatole klopfte auf seine Jackentasche. »Ja. Und ich habe versprochen, dass wir den Boten spielen und die Einladungen überbringen.«
Der nächtliche Sturm hatte lose Äste und Blätter von den glatten silbrigen Stämmen der Buchen gerissen, doch der Weg von der Domaine de la Cade bergabwärts war einigermaßen frei, und sie kamen gut voran. Die Pferde trugen Scheuklappen und blieben ruhig, obwohl die Lampen in ihren Halterungen polternd gegen die Seitenwände der Kutsche schlugen.
»Hast du letzte Nacht den Donner gehört?«, fragte Léonie. »Das war eigenartig. Immer wieder so ein trockenes Rumpeln und dann ein jähes Krachen, und die ganze Zeit heulte der Wind.«
Er nickte. »Gewitter ohne Regen sind hier anscheinend nichts Ungewöhnliches, vor allem im Sommer, dann kann es eine ganze Reihe davon geben, eins nach dem anderen.«
»Es hat sich angehört, als wäre der Donner in dem Tal zwischen den Bergen gefangen. Als wäre er wütend.«
Anatole schmunzelte. »Könnte auch die Wirkung vom Blanquette gewesen sein.«
Léonie streckte ihm die Zunge raus. »Ich habe heute keinerlei Beschwerden«, sagte sie und zögerte dann kurz. »Der Gärtner hat mir erzählt, diese Unwetter kommen angeblich dann, wenn Geister umgehen. Oder war es umgekehrt? Ich weiß nicht genau.«
Anatole hob die Augenbrauen. »Ach ja?«
Léonie drehte sich um und sprach den Kutscher an.
»Kennst du einen See namens Lac de Barrenc?«, rief sie über das Knirschen der Räder hinweg.
»Oc,
Madomaisèla.«
»Ist er weit von hier?«
»Pas luènh.«
Nicht weit. »Die
toristas
besuchen ihn gern, aber ich würde mich nicht da raufwagen.«
Er zeigte mit der Peitsche auf ein dichtes Waldstück und eine Lichtung mit mehreren steinernen Megalithen, die vom Boden aufragten, als hätte eine Riesenhand sie dort fallen gelassen. »Da oben ist der Teufelssessel. Und höchstens eine Morgenwanderung entfernt liegen der Étang du Diable und der Gehörnte Berg.«
Im Grunde sprach Léonie von dem, was sie fürchtete, um die Oberhand darüber zu gewinnen, und das wusste sie auch. Dennoch drehte sie sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zu Anatole um.
»Da siehst du’s«, sagte sie. »Überall Beweise für Teufel und Gespenster.«
Anatole lachte. »Aberglaube,
petite,
keine Frage. Von Beweisen kann keine Rede sein.«
Das Gig setzte sie auf dem Place du Pérou ab.
Anatole fand einen Jungen, der bereit war, für einen Sou die Einladungen an Isoldes Gäste zu verteilen, dann gingen sie los. Zunächst spazierten sie die Gran’Rue entlang in Richtung Thermalbad. Sie verweilten in einem kleinen Straßencafé, wo Léonie eine Tasse starken süßen Kaffee trank und Anatole ein Glas süßen Absinth. Damen und Herren in Promenadenkostümen und Gehröcken flanierten vorbei. Ein Kindermädchen schob einen Kinderwagen. Mädchen, die ihre offenen Haare mit roten und blauen Seidenbändern geschmückt hatten, und ein Junge in Kniebundhosen, der mit Reifen und Stock spielte.
Sie besuchten das größte Geschäft am Ort, die Magasins Bousquet, wo man praktisch alles erstehen konnte, von Garn und Bändern über Kupfertöpfe und -pfannen bis hin zu Schlingenfallen, Netzen und Jagdgewehren. Anatole gab Léonie Isoldes Liste mit Lebensmitteln, die am Samstag an die Domaine de la Cade geliefert werden sollten, und ließ sie die Bestellung aufgeben.
Léonie unterhielt sich blendend.
Sie bewunderten die Architektur des Ortes. Viele Gebäude auf der
rive gauche
waren stattlicher, als sie von der Straße aus wirkten. Etliche hatten sogar mehr Stockwerke, waren höher und in die Schlucht des Flusses hineingebaut. Manche waren zwar bescheiden, aber gepflegt. Andere machten einen leicht heruntergekommenen Eindruck, mit abblätternder Farbe und schiefen Mauern, als lastete die Zeit schwer auf ihnen.
An der Biegung des Flusses hatte Léonie eine ausgezeichnete Sicht auf die Terrassen des Thermalbades und die rückwärtigen Balkone des Hôtel de la Reine. Deutlicher als von der Straße aus war hier zu sehen, wie sehr das Etablissement mit seiner Pracht und Erhabenheit,
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