Die achte Karte
geflohen war, einigermaßen rekonstruieren. Der Inhaber des Petit Chablisien, eines Restaurants in der Nähe der Wohnung der Verniers auf der Rue de Berlin, hatte zugegeben, ein Gespräch über die mittelalterliche Stadt Carcassonne mitgehört zu haben.
Mit einem Beutel voller Münzen hatte Constants Diener mühelos zuerst den Kutscher ausfindig gemacht, der Vernier und seine Schwester an dem Freitagmorgen zum Gare Saint-Lazare gebracht hatte, und dann die zweite Droschke, mit der sie weiter zum Gare Montparnasse gefahren waren, was, wie Constant wusste, die Gendarmen des 8 . Arrondissement noch nicht herausgefunden hatten.
Es war nicht viel, aber es genügte, um Constant zu der Überzeugung zu bringen, dass es die Kosten einer Zugfahrkarte in den Süden wert war. Falls die Verniers in Carcassonne waren, würde es leichter sein. Mit der Hure oder ohne sie. Er wusste nicht, unter welchem Namen sie jetzt lebte, nur dass der Name, unter dem er sie gekannt hatte, in den Grabstein auf dem Cimetière de Montmartre gemeißelt war. Ein totes Ende.
Constant würde im Laufe des Tages in Marseille ankommen. Morgen würde er den Küstenzug von Marseille nach Carcassonne nehmen, und dort würde er sich niederlassen wie eine Spinne in der Mitte eines Netzes und warten, bis seine Beute in Reichweite kam.
Früher oder später würden die Leute reden. Das war immer so. Getuschel, Gerüchte. Die kleine Vernier war eine auffällige Erscheinung. Unter den schwarzhaarigen, glutäugigen, dunkelhäutigen Menschen des Midi würde man sich an ihre weiße Haut, ihr kupferrotes Haar erinnern.
Es könnte eine Weile dauern, aber er würde sie finden.
Constant zog Verniers Uhr aus der Tasche und hielt sie in seinen behandschuhten Händen. Mit dem Goldgehäuse und dem Platin-Monogramm war es eine edle und unverwechselbare Uhr. Es war für ihn ein lustvolles Gefühl, sie einfach nur zu besitzen, Vernier etwas weggenommen zu haben.
Wie du mir, so ich dir.
Seine Miene verhärtete sich, als er sich vorstellte, wie sie Vernier anlächelte, so wie sie einst ihn angelächelt hatte. Plötzlich schoss ihm ein Bild durch den gequälten Kopf: sie entblößt vor dem Blick seines Rivalen. Und er konnte es nicht ertragen.
Um sich abzulenken, griff Constant in seine lederne Reisetasche und tastete nach etwas, das ihm die Zeit vertreiben würde. Seine Hand glitt über die schützende dicke Lederscheide, in der das Messer steckte, das das Leben aus Marguerite Vernier herausgeschnitten hatte. Er holte
Niels Klims unterirdische Reise
von Ludvig Holberg und Swedenborgs
Himmel und Hölle
hervor, stellte aber fest, dass ihn keines der beiden Bücher fesselte.
Er griff zu einem anderen Buch:
Chiromantie
von Robert Fludd.
Noch ein Souvenir. Es passte wunderbar zu seiner Stimmung.
Kapitel 38
∞
Rennes-les-Bains
K aum hatte Léonie die Bibliothek verlassen, als sie von dem Dienstmädchen Marieta in der Halle angesprochen wurde. Sie versteckte das Buch hinter ihrem Rücken.
»Madomaisèla, Ihr Bruder lässt Ihnen ausrichten, dass er sich heute Morgen Rennes-les-Bains anschauen möchte und sich über Ihre Begleitung freuen würde.«
Léonie zögerte, aber nur kurz. Sie brannte zwar darauf, die Domaine nach der Grabkapelle zu durchsuchen, aber das hatte noch Zeit. Ein Ausflug in die Stadt mit Anatole dagegen nicht.
»Bitte bestell meinem Bruder einen Gruß und sag ihm, ich komme furchtbar gern mit.«
»Mit Vergnügen, Madomaisèla. Die Kutsche ist für halb elf bestellt.«
Léonie lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, wo sie sich rasch nach einem Versteck für
Les Tarots
umsah. Sie wollte die Neugier der Dienstboten nicht wecken, indem sie einen so ungewöhnlichen Band offen herumliegen ließ. Ihre Augen fielen auf ihr Handarbeitskästchen. Geschwind öffnete sie den Perlmuttdeckel und verbarg das Büchlein tief zwischen den Garn- und Zwirnrollen, dem Wust aus Stoffresten, Fingerhüten, Stecknadeln und Nadelheften.
Als Léonie wieder in die Halle kam, war von Anatole nichts zu sehen. Sie schlenderte nach draußen auf die Terrasse hinter dem Haus, stützte die Hände auf die Balustrade und schaute hinaus über den Rasen. Breite schräge Sonnenlichtstreifen drangen durch einen zarten Wolkenschleier, und der scharfe Kontrast zwischen Licht und Schatten erschwerte die klare Sicht. Léonie atmete tief ein, sog die frische, saubere, unverschmutzte Luft in die Lunge. Es war so anders als in Paris mit seinem üblen Geruch
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