Die achte Karte
auf seinen Aufenthaltsort?«
Thouron schüttelte den Kopf. »Wir wissen, dass er Paris vor vier Tagen in Begleitung seiner Schwester verlassen hat. Einer von den Droschkenkutschern, die meistens auf der Rue d’Amsterdam stehen, hat angegeben, dass er am vergangenen Freitag kurz nach neun Uhr morgens in der Rue de Berlin einen Mann und eine junge Frau, deren Beschreibung auf die Verniers passt, abgeholt und zum Gare Saint-Lazare gefahren hat.«
»Hat irgendwer sie auch noch im Bahnhof gesehen?«
»Nein, Monsieur le Préfet. Die Züge von Saint-Lazare fahren in die westlichen Vororte – Versailles, Saint-Germain-en-Laye und natürlich auch zur Fähre in Caen. Andererseits hätten sie an jeder beliebigen Haltestelle auf eine Nebenstrecke umsteigen können. Meine Männer sind an der Sache dran.«
Laboughe starrte auf seine Pfeife. Er schien das Interesse zu verlieren.
»Und Sie haben die zuständigen Stellen der Eisenbahn informiert, vermute ich?«
»Alle Bahnhöfe der Haupt- und Nebenstrecken sind verständigt. In der ganzen Île-de-France sind Anschlagzettel verteilt worden, und wir überprüfen die Passagierlisten für die Kanalfähren, nur für den Fall, dass sie noch weitergereist sind.«
Der Präfekt wuchtete sich schwerfällig auf die Beine, schnaufte dabei vor Anstrengung. Er schob die Pfeife in seine Rocktasche, nahm dann seinen Zylinder und die Handschuhe und bewegte sich Richtung Tür wie ein Schiff unter vollen Segeln.
Auch Thouron erhob sich.
»Sprechen Sie noch mal mit Du Pont«, sagte Laboughe. »Er ist der Hauptverdächtige in dieser unglückseligen Angelegenheit, obwohl ich geneigt bin, mich Ihrer Einschätzung der Situation anzuschließen.«
Laboughes Gehstock klopfte auf den Boden, als er langsam durch den Raum schritt, bis er die Tür erreichte.
»Und Inspektor?«
»Monsieur le Préfet?«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden. Wenn es irgendwas Neues gibt, dann will ich das von Ihnen erfahren, nicht aus dem
Petit Journal.
Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht, Thouron. Dergleichen überlassen Sie besser der Journaille und irgendwelchen Romanschriftstellern. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Vollkommen, Monsieur le Préfet.«
Kapitel 36
∞
Domaine de la Cade
I m Schloss der Vitrine steckte ein kleiner Messingschlüssel. Er klemmte, doch Léonie wackelte daran, bis er sich schließlich drehen ließ. Sie zog die Tür auf und nahm den faszinierenden Band heraus.
Léonie setzte sich auf die oberste Trittstufe, und als sie
Les Tarots
öffnete, stieg ihr aus dem festen Einband der Geruch von Staub und altem Papier und Vergangenheit in die Nase. In dem Einband steckte ein dünnes Bändchen, das kaum die Bezeichnung Buch verdiente. Gerade einmal achtzig Seiten, ausgefranst, als wären sie mit einem Messer aufgeschnitten worden. Das dicke cremefarbene Papier verriet ein höheres Alter – nicht uralt, aber auch keine Veröffentlichung jüngeren Datums. Der Text war handgeschrieben, in einer klaren Kursivschrift.
Auf der ersten Seite stand erneut der Name ihres Onkels, Jules Lascombe, und der Titel, diesmal jedoch mit einem Untertitel:
Au delà du voile et l’art musicale de tirer les cartes.
Eine darunter befindliche Illustration sah aus wie eine liegende Acht, wie ein Garnstrang. Bei der Jahreszahl unten auf der Seite handelte es sich vermutlich um das Jahr, in dem ihr Onkel den Text verfasst hatte: 1870 .
Nachdem meine Mutter von der Domaine de la Cade geflohen war und bevor Isolde herkam.
Das Frontispiz war durch ein gewachstes Blatt Seidenpapier geschützt. Léonie hob es an und schnappte unwillkürlich nach Luft. Die schwarzweiße Abbildung, ein Kupferstich, zeigte einen Teufel, der bösartig mit dreistem, lüsternem Blick von der Seite hochstarrte. Sein Körper war geduckt, er hatte hinterlistig verdrehte Schultern, lange Arme und Klauen statt Hände. Sein Kopf war zu groß, verzerrt, wirkte wie die Perversion eines menschlichen Antlitzes.
Als Léonie genauer hinsah, bemerkte sie auf der Stirn der Kreatur Hörner, so klein, dass sie kaum zu erkennen waren, und anstatt menschlicher Haut hatte sie widerliches Fell. Am unangenehmsten waren die beiden unverkennbar menschlichen Figuren, ein Mann und eine Frau, die an den Sockel des Grabmals gekettet waren, auf dem der Teufel stand.
Unter der Illustration war eine römische Ziffer: XV .
Léonie sah unten auf der Seite weder einen Künstlernamen noch eine Erläuterung, woher das Werk stammte. Bloß ein einziges Wort, einen
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