Die achte Karte
nach Ruß und Öfen und der immerwährenden Dunstglocke.
Der Gärtner und sein Junge arbeiteten an den Beeten, banden kleinere Büsche und Bäume an Holzstützen. Eine hölzerne Schubkarre war gefüllt mit zusammengeharktem rotem Herbstlaub, das die Farbe von Wein hatte. Der ältere Mann trug eine kurze braune Jacke und eine Mütze und hatte sich ein rotes Taschentuch um den Hals gebunden. Der Junge, höchstens elf oder zwölf, war barhäuptig und trug ein kragenloses Hemd.
Léonie ging die Stufen hinunter. Als sie näher kam, riss sich der Gärtner die Filzmütze vom Kopf, deren braune Farbe an Herbsterde erinnerte, und hielt sie zwischen seinen verdreckten Fingern.
»Guten Morgen.«
»Bonjorn,
Madomaisèla«, stammelte er.
»Ein schöner Tag.«
»Es gibt ein Unwetter.«
Léonie schaute ungläubig zu dem tiefblauen Himmel hoch, an dem Wolkenfetzen dahintrieben. »Es scheint alles so ruhig. Friedlich.«
»Dauert noch ein Weilchen.«
Er beugte sich näher zu ihr und zeigte eine Reihe schwarzer krummer Zähne, wie alte Grabsteine.
»Teufelswerk, das Unwetter gestern. All die alten Zeichen. Gestern Abend war Musik über dem See.«
Sein Atem war torfig und säuerlich, und Léonie wich instinktiv zurück, unwillkürlich berührt von der Aufrichtigkeit des alten Mannes.
»Was um alles in der Welt meinst du damit?«, fragte sie scharf.
Der Gärtner bekreuzigte sich. »In dieser Gegend geht der Teufel um. Jedes Mal, wenn er aus dem Lac de Barrenc steigt, bringt er heftige Unwetter mit, die sich gegenseitig über das Land jagen. Der verstorbene Herr hat Männer losgeschickt, die den See auffüllen sollten, aber der Teufel ist gekommen und hat ihnen klar und deutlich gesagt, Rennes-les-Bains würde versinken, wenn sie die Arbeit fortsetzen.«
»Das ist törichter Aberglaube. Ich kann mir nicht …«
»Man hat einen Handel abgeschlossen, ich kann nicht sagen, warum oder wie, aber fest steht, dass die Arbeiter sich zurückgezogen haben. Der See blieb, wie er war. Aber jetzt,
mas ara,
ist die natürliche Ordnung erneut gestört. Die Zeichen sind da. Der Teufel wird kommen und sich holen, was ihm gehört.«
»Die natürliche Ordnung?« Léonie merkte, dass sie flüsterte. »Was soll das heißen?«
»Vor einundzwanzig Jahren«, murmelte er, »hat der verstorbene Herr den Teufel gerufen. Wenn die Geister aus dem Grab steigen, ertönt Musik. Ich kann nicht sagen, warum und wieso. Der Priester ist gekommen.«
Sie runzelte die Stirn. »Der Priester? Welcher Priester?«
»Léonie!«
Mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Erleichterung fuhr sie herum, als sie Anatoles Stimme hinter sich hörte. Ihr Bruder stand auf der Terrasse und winkte ihr.
»Die Kutsche ist da«, rief er.
»Halten Sie Ihre Seele verschlossen, Madomaisèla«, sagte der Gärtner gepresst. »Wenn das Unwetter kommt, dürfen die Geister auf Erden wandeln.«
Sie ging die Daten im Kopf durch. Vor einundzwanzig Jahren, hatte er gesagt, also 1870 . Sie fröstelte. Vor ihrem geistigen Auge sah sie dieselbe Zahl, das Jahr der Veröffentlichung auf der Titelseite von
Les Tarots.
Die Geister dürfen auf Erden wandeln.
Die Worte des Gärtners stimmten haargenau mit dem Text überein, den sie heute Morgen gelesen hatte. Léonie öffnete den Mund, um noch eine Frage zu stellen, doch der alte Mann hatte bereits wieder seine Mütze aufgesetzt und begann erneut zu graben. Sie zögerte noch einen Moment, dann raffte sie ihre Röcke und lief leichtfüßig die Treppe hinauf zu ihrem wartenden Bruder.
Es war verblüffend, ja. Und auch beunruhigend. Aber sie würde sich ihre Zeit mit Anatole von nichts und niemandem verderben lassen.
»Guten Morgen«, sagte er, beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die gerötete Wange zu drücken, und musterte sie dann von oben bis unten. »Vielleicht wäre etwas mehr Schicklichkeit angebracht?«
Léonie blickte nach unten auf ihre Strümpfe, die deutlich sichtbar waren und in denen sich Laub verfangen hatte. Sie grinste und strich ihre Röcke mit der Hand glatt.
»Bitte sehr«, sagte sie. »Die Sittsamkeit in Person!«
Anatole schüttelte halb verärgert, halb amüsiert den Kopf.
Sie gingen zusammen durchs Haus und stiegen in die Kutsche. »Hast du heute genäht?«, fragte er, als er einen roten Faden bemerkte, der an ihrem Ärmel hing. »Wie fleißig!«
Léonie zupfte den Faden ab und ließ ihn zu Boden fallen. »Ich hab nur etwas in meiner Handarbeitskiste gesucht, mehr nicht«, entgegnete sie und wurde nicht
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