Die achte Karte
zerspringen, doch ich rezitierte weiter, wie ein Wahnsinniger stammelnd, die Namen auf den Karten: Narr, Turm, Kraft, Gerechtigkeit, Urteil. Rief ich die Geister der Karten an, die sich jetzt offenbart hatten, um mir zu helfen, oder waren sie es, die mich daran hatten hindern wollen, in das Quadrat zu gelangen? Meine Stimme schien nicht mehr die meine zu sein, sondern von irgendwo außerhalb von mir zu kommen, leise zuerst, doch allmählich immer lauter und beschwörender, gewann sie an Kraft und füllte die Grabkapelle.
Dann, als ich glaubte, ich könnte es nicht länger ertragen, wich etwas von mir zurück, von meinem Sein, von unterhalb meiner Haut, mit einem schabenden Geräusch, als kratzten die Klauen eines wilden Tieres an meinen Knochen entlang. Ein Rauschen ertönte in der Luft. Der Druck auf meinem versagenden Herzen verschwand.
Halb ohnmächtig stürzte ich zu Boden, nahm aber dennoch wahr, wie die Noten – dieselben vier Noten – verklangen und das Flüstern und Seufzen der Geister schwächer wurde, bis ich schließlich gar nichts mehr hörte.
Ich schlug die Augen auf. Die Karten waren wieder in ihren schlafenden Zustand zurückgekehrt. An den Wänden der Apsis waren die Gemälde nun reglos. Dann senkte sich plötzlich ein Gefühl von Leere und Frieden über die Grabkapelle, und ich wusste, dass es zu Ende war. Dunkelheit umfing mich. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos dort lag.
Ich habe die Musik so gut ich konnte aufgezeichnet. Die Male in meinen Handflächen, wie Stigmata, sind nicht verblasst.
Léonie stieß einen leisen Pfiff aus. Sie blätterte die Seite um. Es kam keine mehr.
Eine Weile saß sie einfach nur da und starrte auf die letzten Zeilen des Textes. Es war eine merkwürdige Schilderung. Das okkulte Zusammenspiel von Musik und Ort hatte die Bilder auf den Karten zum Leben erweckt und, falls sie es richtig verstanden hatte, diejenigen heraufbeschworen, die auf die andere Seite hinübergegangen waren.
Au delà du voile
– jenseits des Schleiers –, wie der Untertitel erklärte.
Und von meinem Onkel verfasst.
In diesem Moment wunderte sich Léonie, ebenso wie über alles andere, wieso nie erwähnt worden war, dass es in ihrer Familie einen Autor von solcher Qualität gab.
Und doch …
Léonie hielt inne. In der Einleitung behauptete ihr Onkel, es sei eine wahrheitsgemäße Darstellung. Sie lehnte sich zurück. Was meinte er damit, wenn er von der Macht schrieb, »in eine andere Dimension« zu gelangen? Was meinte er, wenn er schrieb: »Mein Selbst und andere Formen meines Selbst, vergangene und zukünftige«? Und hatten sich die beschworenen Geister wieder dorthin zurückgezogen, woher sie gekommen waren?
Ihre Nackenhaare sträubten sich. Léonie fuhr herum, warf einen Blick über die Schulter nach rechts und links, hatte das Gefühl, als stünde jemand hinter ihr. Sie spähte rasch in die dunklen Schatten der Nischen rechts und links vom Kamin und in die staubigen Ecken hinter Tischen und Vorhängen. Gab es noch immer Geister auf dem Anwesen? Sie musste an die Gestalt denken, die sie am Vorabend über den Rasen hatte gehen sehen.
Eine Vorahnung? Oder etwas anderes?
Léonie schüttelte den Kopf, leicht amüsiert, dass sie sich so von ihrer Phantasie beherrschen ließ, und wandte sich wieder dem Text zu. Wenn sie ihren Onkel beim Wort nahm und glaubte, dass die Geschichte nicht fiktiv war, sondern eine wahre Begebenheit schilderte, stand dann die Grabkapelle auf dem Gelände der Domaine de la Cade? Sie war geneigt, das anzunehmen, nicht zuletzt deshalb, weil die Musiknoten, die für die Geisterbeschwörung erforderlich waren – C, D, E, A –, mit dem Namen des Anwesens übereinstimmt: CADE .
Und gibt es sie noch?
Léonie stützte das Kinn in die Hand. Ihre praktische Seite übernahm die Führung. Es dürfte nicht schwer sein, herauszufinden, ob es hier auf dem Gelände irgendein Gebäude gab, auf das die Beschreibung ihres Onkels passte. Es wäre nicht ungewöhnlich für einen Landsitz dieser Größe, innerhalb des Parks eine eigene Kapelle oder ein Mausoleum zu haben. Ihre Mutter hatte nie etwas dergleichen erwähnt, aber sie hatte ja auch so gut wie nie über die Domaine gesprochen. Auch Tante Isolde hatte nichts davon gesagt, doch die Frage war am Vorabend nicht Gegenstand des Gesprächs gewesen, und außerdem hatte sie selbst zugegeben, dass sie nur wenig über die Geschichte des Landsitzes ihres verstorbenen Gatten wusste.
Wenn diese Grabkapelle noch
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