Die achte Karte
machtlos«, sagte er zornig, »also hat es keinen Sinn, diese Unterhaltung fortzusetzen.« Er griff nach Hut und Stock. »Komm. Die Kutsche wartet.«
»Anatole, bitte«, flehte sie, aber er schritt schon über den Platz. Léonie war hin- und hergerissen zwischen Reue und Ärger, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Vor allem wünschte sie, sie hätte den Mund gehalten.
Doch als sie aus Rennes-les-Bains hinausfuhren, wurde sie trotzig. Es war nicht ihre Schuld. Nun ja, sie hatte das Gespräch angezettelt, aber sie hatte es nicht böse gemeint. Anatole hatte beleidigt reagiert, obwohl sie ihn gar nicht hatte kränken wollen. Und dann traf sie eine weitere, quälendere Erkenntnis.
Er ergreift gegen mich Isoldes Partei.
Für eine derart kurze Bekanntschaft war das völlig unangebracht. Schlimmer noch, bei dem Gedanken wurde Léonie schlecht vor Eifersucht.
Kapitel 39
∞
D ie Rückfahrt zur Domaine de la Cade war unangenehm. Léonie schmollte. Anatole beachtete sie gar nicht. Sobald sie ankamen, sprang er aus der Kutsche und verschwand ins Haus, ohne sich noch einmal umzuschauen, so dass Léonie sich überlegen musste, was sie mit dem öden und einsamen Nachmittag anstellen sollte, der ihr nun bevorstand.
Sie wollte niemanden sehen, stürmte die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf sich bäuchlings aufs Bett. Sie streifte die Schuhe ab, ließ sie mit einem befriedigenden Plumps auf den Boden fallen, und hielt die Füße über den Bettrand gestreckt, als triebe sie auf einem Floß einen Fluss hinunter.
»
J’en ai marre.«
Es reicht.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zwei.
Léonie zupfte an den losen Fäden der bestickten Tagesdecke, zog die dünnen, schimmernden Goldfädchen heraus, bis sie neben sich auf dem Bett einen kleinen Berg aufgehäuft hatte, an dem Rumpelstilzchen seine Freude gehabt hätte. Sie schaute frustriert zur Uhr hinüber.
Zwei Minuten nach zwei. Die Zeit schien stillzustehen.
Sie glitt vom Bett, ging zum Fenster hinüber und hob eine Ecke des Vorhangs an. Die Rasenflächen waren von sattem goldenem Licht überflutet. Noch immer waren überall die Schäden zu sehen, die der tückische Wind angerichtet hatte. Doch zugleich sah der Park irgendwie friedlich aus. Vielleicht würde sie einen Spaziergang machen. Das Grundstück ein bisschen erkunden.
Ihr Blick fiel auf den Handarbeitskasten, und sie kramte das schwarze Buch aus den Stoffresten und Pailletten hervor.
Aber ja.
Die Gelegenheit war ideal, um sich auf die Suche nach der Grabkapelle zu machen. Das hatte sie ja ohnehin für heute vorgehabt. Vielleicht würde sie sogar die Tarotkarten finden. Sie schlug das Buch auf. Diesmal las Léonie es Wort für Wort.
Eine Stunde später schlich sich Léonie in ihrer neuen Kammgarnjacke, robuste Wanderstiefel an den Füßen und den Hut keck auf dem Kopf, hinaus auf die Terrasse.
Es war keine Menschenseele im Garten, aber sie ging trotzdem schnell, weil sie sich niemandem gegenüber rechtfertigen wollte. Fast im Laufschritt passierte sie die Rhododendron- und Wacholderbüsche und behielt das Tempo bei, bis sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war. Erst als sie durch die Öffnung in der hohen Buchsbaumhecke geschlüpft war, wurde sie langsamer, um zu verschnaufen. Schon jetzt schwitzte sie. Sie nahm den kratzigen Hut ab und genoss das Gefühl der gesunden Luft auf dem unbedeckten Kopf. Die Handschuhe stopfte sie tief in ihre Taschen. Es erfüllte sie mit einem Hochgefühl, so ganz allein und unbeobachtet zu sein, ihre eigene Herrin.
Am Waldrand blieb sie stehen, verspürte den ersten Anflug von Unsicherheit. Ein fast greifbares Gefühl der Stille lag in der Luft, der Geruch nach Farn und Laub. Sie blickte kurz über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen war, dann in das Halbdunkel des Waldes. Das Haus war fast nicht mehr zu sehen.
Und wenn ich nicht mehr zurückfinde?
Léonie sah zum Himmel. Vorausgesetzt, sie war nicht zu lange unterwegs, und vorausgesetzt, das Wetter schlug nicht um, dann könnte sie sich für den Rückweg einfach nach Westen hin orientieren, an der untergehenden Sonne. Außerdem war das ein bewirtschafteter und gepflegter Privatwald innerhalb eines Anwesens. Wohl kaum ein Vorstoß ins Unbekannte.
Es gibt nichts zu befürchten.
Nachdem sie sich selbst Mut gemacht hatte, weiterzugehen, und sich schon fast vorkam wie eine Heldin in einem Abenteuerroman, betrat Léonie einen überwucherten Pfad. Nach einem kurzen Stück gabelte sich der
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