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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Sollte sie stürzen oder sich verirren, würde keiner wissen, wo man nach ihr suchen sollte. Außerdem fiel ihr ein, dass sie irgendeine Art von Spur hätte hinterlassen sollen. Papierschnipsel oder weiße Kieselsteine, wie Hänsel und Gretel im Märchen, um den Heimweg zu markieren.
    Es gibt keinen Grund, dass ich mich verlaufe.
    Léonie ging weiter, tiefer in den Wald hinein. Sie erreichte eine Lichtung, die von wilden Wacholderbüschen umringt war, die Zweige mit überreifen Beeren bedeckt, als würde sich kein Vogel so tief in den Wald verirren.
    Schatten, verzerrte Formen, glitten in ihr Gesichtsfeld und verschwanden wieder. Im grünen Umhang des Waldes trübte sich das Licht, streifte die beruhigende und vertraute Welt ab und verdrängte sie durch etwas Unverständliches, etwas, das lange vergangen war. Nachmittagsdunst erhob sich unangekündigt und ohne Vorwarnung, schlich durch die Bäume, die Dornenbüsche, das Gestrüpp. Es herrschte eine absolute und undurchdringliche Stille, da die feuchte Luft jeden Laut dämpfte. Léonie hatte das Gefühl, als legten sich kalte Finger um ihren Hals wie ein Schal, schlängelten sich unter den Röcken um ihre Beine wie eine Katze.
    Dann sah sie plötzlich weiter vorne durch die Bäume hindurch die Umrisse von etwas, das nicht aus Holz oder Erde oder Rinde bestand. Eine kleine steinerne Kapelle, kaum groß genug, um sieben oder acht Gläubigen Platz zu bieten, mit spitzem Dach und einem kleinen Steinkreuz über dem bogenförmigen Eingang.
    Léonie stockte der Atem.
    Ich habe es gefunden.
    Rings um die Grabkapelle wuchsen knorrige Eiben, die den Pfad überschatteten, die Wurzeln verdreht und unförmig wie die Hände eines Greises. In der feuchten Erde waren keine Fußspuren zu sehen. Die Brombeerbüsche und Dornensträucher waren allesamt verwildert.
    Léonie empfand gleichermaßen Stolz und Anspannung, als sie weiterging. Blätter raschelten und Zweige knackten unter ihren Sohlen.
    Ein weiterer Schritt. Noch näher, bis sie vor der Tür stand. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben. Über dem vollkommen symmetrischen hölzernen Spitzbogen waren zwei Verszeilen in altertümlichen schwarzen Lettern aufgemalt.
    Aïci lo tems s’en
    Va res l’Eternitat.
    Leonie las die Worte zweimal laut und ließ sich die seltsamen Laute über die Zunge rollen. Sie zog ihren Stift aus der Tasche und notierte sie auf einem Stück Papier.
    Sie hörte hinter sich ein Geräusch. Ein Rascheln? Ein wildes Tier? Eine Bergkatze? Dann ein anderes Geräusch, als würde ein Tau über ein Schiffsdeck gezogen. Eine Schlange? Ihr Selbstvertrauen verflüchtigte sich. Die dunklen Augen des Waldes schienen sie zu durchbohren.
    Jetzt erinnerte sie sich der Worte aus dem Buch mit grässlicher Klarheit. Vorahnungen, gespenstisch, ein Ort, wo der Schleier zwischen den Welten gehoben wurde.
    Plötzlich zögerte Léonie, die Grabkapelle zu betreten. Doch die Alternative, allein und ungeschützt auf der Lichtung zu bleiben, erschien ihr noch schlimmer. Das Blut rauschte ihr im Kopf, als sie die Hand hob, den schweren Metallring an der Tür umfasste und drückte.
    Zunächst geschah nichts. Sie drückte erneut. Diesmal ertönte das knirschende Geräusch von Metall, das sich aus seiner Verankerung schob, und dann ein lautes Klacken, als der Riegel nachgab. Sie legte ihre schmale Schulter an das Holz und stemmte sich dann mit dem Gewicht ihres ganzen Körpers dagegen.
    Langsam schwang die Tür zitternd auf.

Kapitel 40
    ∞
    L éonie betrat die Grabkapelle. Kalte Luft schlug ihr entgegen, zusammen mit dem unverkennbaren Duft von Staub und Vergangenheit und der Erinnerung an jahrhundertealten Weihrauch. Und da war noch etwas. Sie rümpfte die Nase. Es roch schwach nach Fisch, nach Meer, dem salzverkrusteten Rumpf eines gestrandeten Fischerboots.
    Sie ballte die Hände am Körper, damit das Zittern aufhörte.
    Hier ist es.
    An der Westmauer, rechts direkt neben dem Eingang, war der Beichtstuhl, etwa einen Meter achtzig hoch, zweieinhalb Meter breit und höchstens sechzig Zentimeter tief. Er war aus dunklem Holz gezimmert und sehr schlicht, nicht zu vergleichen mit den kunstvoll geschnitzten Exemplaren in den Kathedralen und Kirchen von Paris. Das Gitterfenster war geschlossen. Vor einem der Sitze hing ein einzelner trister violetter Vorhang. Auf der anderen Seite des Beichtstuhls fehlte der Vorhang.
    Gleich links vom Eingang war das
bénitier,
das Weihwasserbecken. Léonie wich zurück. Das Becken war

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