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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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seinen modernen Gebäuden und Bädern und teuren Glasfenstern alles andere in den Schatten stellte. Eine schmale Steintreppe führte von den Terrassen direkt bis ans Ufer, wo eine Ansammlung kleiner Badekabinen stand. Es war ein Zeugnis des Fortschritts, der Wissenschaft, ein moderner Altar für die heutigen Pilger, die ärztlichen Beistandes bedurften.
    Eine einsame Krankenschwester, auf deren Kopf die weiße Flügelhaube thronte wie ein riesiger Seevogel, schob einen Patienten in einem Rollstuhl. Am Ufer, unterhalb der Allée des Bains de la Reine, spendete eine schmiedeeiserne Pergola in Form einer Krone Schatten. In einer kleinen fahrbaren Bude mit einer schmalen, aufklappbaren Durchreiche zur Straße hin verkaufte eine Frau mit hellem Kopftuch und dicken sonnengebräunten Armen für ein paar Centimes Becher mit Apfelcidre. Neben dem Café auf Rädern, das an einen Wohnwagen erinnerte, war eine hölzerne Vorrichtung, um Äpfel zu pressen, und ihre Metallzähne mahlten bedächtig, während ein kleiner Junge mit vernarbten Händen und in einem viel zu großen Hemd sie mit gelben und roten Äpfeln fütterte.
    Anatole stellte sich in die Warteschlange und kaufte zwei Becher. Für seinen Geschmack war der Saft zu süß. Léonie hingegen fand ihn köstlich und trank zuerst ihren und dann den Rest von seinem, wobei sie die vereinzelten Kerne in ihr Taschentuch spuckte.
    Die
rive droite
 – das gegenüberliegende Ufer – war völlig anders. Dort standen nicht so viele Gebäude, und die wenigen, die sich zwischen den fast bis ans Wasser reichenden Bäumen an den Berghang klammerten, waren kleine und bescheidene Wohnhäuser. Hier lebten die Handwerker, die Bediensteten, die kleinen Ladenbesitzer, deren Auskommen von den Unpässlichkeiten und eingebildeten Leiden der Bürgerschicht aus Städten wie Toulouse, Perpignan oder Bordeaux abhing. Léonie sah die Patienten in dem dampfenden eisenhaltigen Wasser der
bains forts
sitzen, die man durch einen nicht öffentlichen, abgedeckten Zugang erreichte. Eine Reihe von Krankenschwestern und Dienstmädchen warteten, Handtücher über den Arm gehängt, geduldig am Ufer auf die Rückkehr ihrer Schutzbefohlenen.
    Als sie den ganzen Ort zu Léonies Zufriedenheit erkundet hatten, erklärte sie, dass sie erschöpft sei und dass ihre Stiefel drückten. Sie gingen am Post- und Telegrafenamt vorbei zurück zum Place du Pérou.
    Anatole schlug vor, in eine nette Brasserie an der Südseite des Platzes einzukehren. »Ist es dir draußen recht?«, fragte er und zeigte mit seinem Gehstock auf den einzigen freien Tisch. »Oder möchtest du lieber drinnen essen?«
    Der Wind, der sanft zwischen den Häusern Verstecken spielte, wisperte durch die Gassen und ließ die Markisen flattern. Léonie schaute sich um, betrachtete die goldenen, kupferfarbenen und weinroten Blätter, die im Wind wirbelten, und die zarten Streifen Sonnenlicht auf dem efeubewachsenen Haus.
    »Draußen«, sagte sie. »Es ist zauberhaft. Wunderschön.«
    Anatole lächelte. »Ich frage mich, ob das der Wind ist, den sie hier Cers nennen«, sagte er nachdenklich und nahm ihr gegenüber Platz. »Ich glaube, es ist ein Nordwestwind, der von den Bergen herabkommt, wie Isolde sagt, im Gegensatz zu dem Marin, der vom Mittelmeer heraufweht.« Er öffnete schwungvoll seine Serviette. »Oder war das der Mistral?«
    Léonie zuckte die Achseln.
    Anatole bestellte für sie beide die
pâté de la maison,
eine Portion Tomaten und eine
bûche de chèvre,
Ziegenkäse aus der Gegend, der mit Mandeln und Honig serviert wurde, sowie einen
pichet
Rosé aus den Bergen.
    Léonie brach ein Stück Brot ab und schob es sich in den Mund.
    »Ich war heute Morgen in der Bibliothek«, sagte sie. »Eine überaus interessante Büchersammlung, wie ich finde. Und ich wundere mich, dass wir gestern Abend überhaupt das Vergnügen deiner Gesellschaft hatten.«
    Seine braunen Augen verengten sich. »Was soll denn das heißen?«
    »Nur dass du dich bei der Riesenmenge Bücher stundenlang hättest beschäftigen können und ich mich gefragt habe, wie es dir gelungen ist, ausgerechnet Monsieur Baillards Abhandlung zu finden.« Sie kniff die Augen zusammen. »Wieso? Was dachtest du denn?«
    »Nichts«, entgegnete Anatole und zwirbelte seine Schnurrbartspitzen.
    Léonie merkte, dass er ihr auswich, und legte ihre Gabel aus der Hand. »Obwohl, jetzt, wo du es ansprichst, muss ich gestehen, dass ich mich wundere, wieso du gestern Abend, als du nach dem Nachmittagstee in

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