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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Pfad, und sie blieb stehen. Nach links ging es in ein verwildertes und verlassen wirkendes Gelände. Von den Buchsbäumen und dem Lorbeer troff Feuchtigkeit. Die Flaumeichen und die spitzen Nadeln der
pins maritimes
schienen sich niedergeschlagen und erschöpft unter der unliebsamen Last der Zeit zu neigen. Der nach rechts führende Pfad machte dagegen einen geradezu profanen Eindruck.
    Wenn es tatsächlich eine in Vergessenheit geratene Grabkapelle auf dem Anwesen gab, dann befand sie sich doch gewiss irgendwo tief im Wald. Weit außer Sichtweite des Haupthauses.
    Léonie nahm den linken Pfad in den Schatten hinein. Der Boden sah aus, als wäre lange niemand mehr hier entlanggegangen. Es gab keine frischen Radspuren von der Schubkarre des Gärtners, nichts ließ vermuten, dass hier Laub geharkt worden war oder in letzter Zeit jemand einen Fuß hierhergesetzt hatte.
    Léonie merkte, dass es bergauf ging. Der Pfad wurde immer beschwerlicher und unwegsamer. Steine, unebene Erde und lose Äste, die aus dem verwachsenen Dickicht auf beiden Seiten gefallen waren. Sie fühlte sich eingeschlossen, als drängte die Natur auf sie ein, als würde alles um sie herum enger. Auf einer Seite erhob sich eine steile Böschung, die mit dichtem grünem Gestrüpp und Weißdornzweigen und einem undurchdringlichen Gewirr von Eiben bewachsen war, alles so dicht verflochten, dass es im Halbdunkel aussah wie schwarze Spitze. Léonie spürte ein nervöses Flattern in der Brust. Jeder Ast, jede Wurzel zeugte von Verlassenheit. Selbst die Tiere schienen diesen gottverlassenen Wald aufgegeben zu haben. Kein Vogel sang, keine Kaninchen, Füchse oder Mäuse eilten im Unterholz zu ihren Erdhöhlen.
    Bald darauf fiel das Gelände rechts neben dem Pfad steil nach unten hin ab. Mehrmals hörte Léonie, wie Steine, die sie mit dem Fuß losgetreten hatte, in die Tiefe polterten. Ihre Besorgnis wuchs. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich die Gespenster oder Geister oder Erscheinungen vorzustellen, die, wie sowohl der Gärtner als auch Monsieur Baillard in seinem Buch behaupteten, in diesen Wäldern ihr Unwesen trieben.
    Dann flachte sich der Hang ab, und auf einer Seite öffnete sich ein ungehinderter Ausblick auf das Panorama der fernen Berge. Sie stand auf einer natürlichen Plattform, die fast wie eine Brücke über einen Wasserlauf ragte. Ein Streifen brauner Erde, der den Pfad im rechten Winkel kreuzte, ein flacher Kanal, den das schnell strömende Schmelzwasser im Frühling gegraben hatte. Jetzt war er trocken.
    Durch die Öffnung, die sich über den Wipfeln der kleineren Bäume auftat, schien sich plötzlich die ganze Welt vor Léonie auszubreiten wie ein Gemälde. Die Wolken zogen über einen scheinbar endlosen Himmel, und in den Mulden und an den Flanken der Berge schwebten Nebelschleier oder der Hitzedunst eines Spätsommernachmittags.
    Léonie atmete tief durch. Sie fühlte sich herrlich, so fern von aller Zivilisation, vom Fluss und den grauen und roten Dächern der Häuser unten in Rennes-les-Bains, von den zarten Umrissen der
cloche-mur
und der Silhouette des Hôtel de la Reine. Umhüllt von der waldigen Stille, konnte Léonie sich den Lärm in den Cafés und Restaurants vorstellen, das Klappern in den Küchen, das Klirren von Pferdegeschirr und Gigs auf der Gran’Rue, die Rufe des Kutschers, wenn der
courrier
auf den Place du Pérou rollte. Und dann trug der Wind das dünne Läuten der Kirchenglocke bis zu der Stelle herauf, wo sie stand und lauschte.
    Vier
Uhr schon.
    Léonie lauschte, bis das schwache Echo verhallt war. Ihre Abenteuerlust verlor sich zusammen mit dem Klang. Sie musste an die Worte des Gärtners denken.
    Halten Sie Ihre Seele verschlossen.
    Sie wünschte, sie hätte ihn – irgendwen – um eine Wegbeschreibung gebeten. Sie wollte immer alles allein machen und hasste es, andere um Hilfe zu bitten. Vor allem bereute sie, das Buch nicht mitgenommen zu haben.
    Aber jetzt bin ich schon zu weit, um unverrichteter Dinge wieder umzukehren.
    Léonie reckte das Kinn in die Höhe, ging entschlossen weiter und kämpfte den schleichenden Verdacht nieder, dass sie in die völlig falsche Richtung lief. Sie hatte keine Karte, keinerlei Hinweise. Wieder bedauerte sie ihre mangelnde Voraussicht und ihren Stolz, die sie daran gehindert hatten zu fragen, ob es eine Karte von der Domaine gab. Allerdings hatte sie am Morgen in der Bibliothek nichts dergleichen gesehen.
    Ihr schoss durch den Kopf, dass niemand wusste, wo sie war.

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