Die achte Karte
akkurat ihrem Erlebnis. Die Frage war, ob sich die Worte so tief in ihrem Unbewussten eingenistet hatten, dass ihre Empfindungen und Reaktionen dadurch gelenkt worden waren. Oder hatte sie unabhängig etwas von dem erlebt, was ihr Onkel gesehen hatte? Ein weiterer Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
Kann es sein, dass Isolde wirklich nichts von alledem weiß?
Léonie hatte keinen Zweifel mehr, dass sowohl ihre Mutter als auch Isolde etwas Verstörendes in der Atmosphäre der Domaine spürten. Beide spielten sie, jede auf ihre Weise, auf eine bestimmte Stimmung an, sie ließen ein Gefühl der Unruhe durchblicken, wenngleich keine von ihnen offen darüber sprach. Léonie presste die Hände aneinander und legte das Kinn auf die Fingerspitzen, während sie angestrengt nachdachte. Auch sie hatte dieses Gefühl gestern Nachmittag empfunden, als sie und Anatole auf der Domaine de la Cade eingetroffen waren.
Während sie weiter nachgrübelte, schob sie das Notenblatt mit der Klaviermusik zwischen die Seiten von
Les Tarots
und legte das Buch zurück in sein Versteck. Sie wollte rasch nach unten zu den anderen. Jetzt, da der Schreck sich gelegt hatte, war sie neugierig und entschlossen, mehr herauszufinden. Es gab so viele Fragen, die sie Isolde stellen wollte, nicht zuletzt die, was sie über die Tätigkeiten ihres Mannes vor der Heirat wusste. Vielleicht würde sie sogar an M’man schreiben, um sich zu erkundigen, ob es in ihrer Kindheit irgendwelche speziellen Vorfälle gegeben hatte, die sie verängstigt hatten. Denn ohne zu wissen, wieso sie ihrer Sache so sicher war, ging Léonie nun davon aus, dass es der Ort selbst war, der diese Schrecken barg, der Wald, der See, die uralten Bäume.
Doch als sie die Tür ihres Zimmers hinter sich schloss, wurde Léonie klar, dass sie niemandem von ihrem Abenteuer erzählen durfte, weil man ihr sonst vielleicht verbieten würde, noch einmal zu der Grabkapelle zu gehen. Zumindest fürs Erste musste sie darüber Stillschweigen bewahren.
Langsam senkte sich die Nacht über die Domaine de la Cade und brachte eine gewisse Anspannung mit sich, ein Gefühl des Wartens und Wachens.
Das Abendessen verlief angenehm, untermalt vom gelegentlichen Poltern des trostlosen Donners in der Ferne. Léonies abenteuerliche Erkundung des Anwesens blieb unerwähnt. Stattdessen sprachen sie über Rennes-les-Bains und die Nachbarorte, über die Vorbereitungen für das Diner am Samstag und die Gäste, darüber, wie viel es noch zu tun gab und wie viel Freude sie dabei haben würden.
Freundliche, alltägliche, häusliche Gespräche.
Als sie sich nach dem Essen in den Salon begaben, schlug ihre Stimmung um. Die Dunkelheit außerhalb der Mauern schien fast lebendig. Es war eine Erleichterung, als das Unwetter endlich losbrach. Der Himmel selbst begann zu grollen und zu beben. Grelle, gezackte verästelte Blitze jagten silbern durch schwarze Wolken. Donner krachte, brüllte, prallte von Felsen und Bäumen ab, hallte durchs Tal.
Dann erfasste der Wind, der sich einen Moment gelegt hatte, als wollte er neue Kraft sammeln, das Haus mit voller Gewalt und brachte den ersten Regen mit, der schon den ganzen Abend gedroht hatte. Hagelschauer prasselten gegen die Fenster, bis es allen im Schutz des Hauses so vorkam, als rausche eine Wasserlawine über die Fassade des Gebäudes wie Wellen, die sich am Ufer brachen.
Dann und wann meinte Léonie, sie könne noch immer die Musik hören. Als hätte der Wind die Noten auf dem Blatt, das in ihrem Zimmer versteckt war, aufgenommen und zum Klingen gebracht. Genau wie der alte Gärtner gesagt hatte, fiel ihr mit einem Frösteln ein.
Die meiste Zeit versuchten Anatole, Isolde und Léonie, nicht auf den draußen tosenden Sturm zu achten. Ein gemütliches Feuer knisterte und knackte im Kamin. Alle Lampen waren entzündet, und die Dienstboten hatten noch mehr Kerzen gebracht. Sie hatten es so behaglich wie möglich, und doch fürchtete Léonie, die Wände könnten sich unter dem Ansturm biegen, ins Wanken geraten und einstürzen.
In der Halle wurde eine unverriegelte Tür vom Wind aufgestoßen und rasch wieder gesichert. Léonie hörte, wie die Dienstboten durchs Haus eilten und überprüften, ob auch alle Fensterläden geschlossen waren. Da die Gefahr bestand, dass die dünnen Scheiben in den alten Fassungen zersprangen, hatte man die Vorhänge zugezogen. In den Fluren der obersten Etage ertönten Schritte und das Klappern von Eimern und Kübeln, die verteilt wurden, um das
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