Die achte Karte
Léonie las und malte auf der kleinen Landzunge, die sich über den See erhob, ein Bild vom Haus.
Das Buch ihres Onkels und das Notenblatt, das sie aus der Grabkapelle mitgenommen hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf, aber sie ließ beides unberührt. Und auch wenn sie den Landsitz allein erkundete, verbot Léonie ihren Füßen, sie in die Richtung des verwilderten Pfades zu tragen, der zu der vergessenen westgotischen Kapelle führte.
Samstag, der 26 . September, der Tag der Abendgesellschaft, brach strahlend und klar an.
Als Léonie mit ihrem Frühstück fertig war, kam schon der erste Lieferkarren aus Rennes-les-Bains über die Einfahrt der Domaine de la Cade gerumpelt. Ein Junge sprang herab und entlud zwei große Eisblöcke. Bald darauf traf ein weiterer Karren ein und brachte das
viande,
Käse, frische Milch und Sahne.
In jedem Zimmer des Hauses, so kam es Léonie zumindest vor, waren Bedienstete unter den Blicken der alten Haushälterin damit beschäftigt, zu putzen und zu polieren, Servietten zu falten und Aschenbecher zu verteilen.
Um neun Uhr erschien Isolde aus ihrem Zimmer und nahm Léonie mit in den Garten. Ausgerüstet mit Gartenscheren und dicken Überschuhen aus Gummi zum Schutz gegen die nasse Erde, schnitten sie für die Tischdekorationen Blumen, auf denen noch der erste Tau lag.
Als sie um elf ins Haus zurückkehrten, hatten sie vier flache Holzkörbe mit Blüten gefüllt. Im Morgenzimmer wartete nicht nur dampfender Kaffee auf sie, sondern auch ein bestens aufgelegter Anatole, der sie über seine Zeitung hinweg anlächelte.
Gegen Mittag war Léonie mit den Tischkarten fertig, bei deren Beschriftung und Gestaltung sie sich genau an Isoldes Vorgaben gehalten hatte. Sie nahm ihrer Tante das Versprechen ab, dass sie selbst die Karten verteilen durfte, sobald der Tisch fertig gedeckt war.
Gegen eins blieb nichts mehr zu tun. Bei einem leichten Mittagsimbiss erklärte Isolde, sie wolle sich in ihrem Zimmer ein paar Stunden ausruhen. Anatole zog sich zurück, um ein wenig Korrespondenz zu erledigen. Und Léonie blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls ihr Zimmer aufzusuchen.
Dort angekommen, fiel ihr Blick auf den Handarbeitskasten, in dem
Les Tarots
unter roter Baumwolle und blauem Garn schlummerte, doch obwohl ihr Ausflug zur Grabkapelle schon einige Tage zurücklag, war ihr noch immer nicht danach, sich wieder in die Mysterien des Textes hineinziehen und dadurch ihren Seelenfrieden gefährden zu lassen. Außerdem war Léonie klar, dass Lesen an diesem Nachmittag nicht die passende Beschäftigung war. Ihre Gedanken waren viel zu sprunghaft vor lauter Vorfreude auf den Abend.
Stattdessen wanderte ihr Blick zu der Stelle auf dem Boden, wo ihre Farben und Pinsel, die Staffelei und ein Heft Zeichenpapier lagen. Sie stand auf, und eine Welle der Zuneigung zu ihrer Mutter erfasste sie. Jetzt wäre die ideale Gelegenheit, ihre Zeit zu nutzen und ein hübsches Souvenir für M’man zu malen. Ein Geschenk, das sie ihr Ende Oktober bei ihrer Rückkehr nach Paris überreichen könnte.
Um die unglücklichen Kindheitserinnerungen an die Domaine de la Cade zu überdecken?
Léonie läutete nach dem Mädchen und ließ sich eine Schüssel Wasser für ihre Pinsel bringen sowie ein dickes Baumwolltuch, um den Tisch abzudecken. Dann nahm sie ihre Palette und einige Tuben Farbe und begann, Wülste von Karmesinrot, Ocker, Turmalinblau, Gelb und Moosgrün und schließlich Ebenholzschwarz für die Konturen herauszuquetschen. Aus ihrem Zeichenbuch nahm sie ein einzelnes, dickes cremefarbenes Blatt.
Sie saß eine Weile still da und wartete auf eine Inspiration. Ohne dass ihr ein bestimmtes Motiv vorschwebte, begann sie, mit zarten schwarzen Strichen die Umrisse einer Figur zu entwerfen. Während ihr Pinsel über das Papier glitt, war sie in Gedanken ganz bei dem aufregenden Abend, der vor ihr lag. Das Gemälde nahm praktisch ohne sie Gestalt an. Sie fragte sich, wie ihr die feine Gesellschaft von Rennes-les-Bains gefallen würde. Alle geladenen Gäste hatten Isoldes Einladung angenommen. Léonie stellte sich vor, wie sie bewundert und umschwärmt wurde, sah sich in ihrem blauen Abendkleid, dann im roten, dann in dem grünen aus dem Samaritaine. Sie malte sich aus, wie ihre schlanken Arme in verschiedenen Abendhandschuhen wirken würden, neigte mal mehr zu dem Paar mit dem speziellen Besatz, mal mehr zu dem anderen, das länger war. Sie überlegte, ob sie ihr kupferrotes Haar mit Perlmuttkämmen feststecken
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