Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
Schilderung in
Les Tarots:
ein nackter Tisch ohne irgendwelche religiösen Gerätschaften – keine Kerzen, kein silbernes Kreuz, kein Messbuch, kein Gesangbuch. Er stand in einer achteckigen Apsis mit einer hellen himmelblauen Decke, wie das prächtige Dach des Palais Garnier. Jedes der acht Wandfelder wurde mit einer gemusterten Tapete ausgekleidet. Sie war mit breiten, leicht verblassten hellroten Querstreifen verziert und wurde durch ein Fries aus roten und weißen Wacholderblüten und ein sich wiederholendes Muster aus blauen Scheiben oder Münzen unterteilt. Dort wo die Tapetenbahnen aneinanderstießen, waren mit Goldfarbe bemalte Stuckleisten angebracht, die wie Stöcke oder Stäbe aussahen.
    Und in jedem Feld war ein gemaltes Bild.
    Léonie schnappte nach Luft, als sie plötzlich erkannte, was sie da vor sich sah. Acht einzelne aus dem Tarot entnommene Bilder, als wären die Figuren aus ihren Karten heraus und an diese Wand hinaufgestiegen. Unter jeder stand die entsprechende Bezeichnung: Le Mat, Le Pagad, La Prêtresse, Les Amoureux, La Force, La Justice, Le Diable, La Tour. Schwarze alte Tinte auf vergilbten Karten.
    Das ist dieselbe Handschrift wie im Buch.
    Léonie nickte. Gab es einen besseren Beweis dafür, dass die Schilderung ihres Onkels auf wahren Ereignissen beruhte? Die Frage war, warum gerade diese acht Karten, von den achtundsiebzig, die ihr Onkel in seinem Buch einzeln aufführte? Mit einem aufgeregten Flattern in der Brust begann sie, die Namen abzuschreiben, aber allmählich war kein Platz mehr auf dem kleinen Stück Papier, das sie in ihrer Tasche gefunden hatte. Sie sah sich in der Grabkapelle um, suchte nach irgendwas anderem, worauf sie schreiben konnte.
    Unter den Steinfüßen des Altars lugte die Ecke eines Blattes Papier hervor. Léonie zog es heraus. Es war ein Stück Klaviermusik, handgeschrieben auf dickem gelbem Pergament. Violin- und Bassschlüssel, einfacher Takt, ohne B oder Kreuze. Sie musste an den Untertitel auf dem Deckblatt von
Les Tarots
denken und an die Worte ihres Onkels – er hatte die Musik aufgezeichnet.
    Sie strich das Notenblatt glatt und versuchte die Eröffnungstakte vom Blatt zu singen, aber sie bekam die Melodie nicht hin, obwohl sie ganz simpel war. Es gab nur eine begrenzte Zahl von Noten, und auf den ersten Blick fühlte sie sich an jene Vierfingerübungen erinnert, mit denen sie sich als Kind im Klavierunterricht hatte herumplagen müssen.
    Dann verzogen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Jetzt erkannte sie das Muster – C-A-D-E. Dieselbe Notenfolge, die sich wiederholte. Wunderschön. Wie das Buch behauptet hatte, Musik, um die Geister zu beschwören.
    Und sogleich folgte auf diesen Gedanken ein weiterer.
    Wenn die Musik hier in der Kapelle geblieben ist, dann vielleicht auch die Karten.
    Léonie zögerte kurz, dann schrieb sie die Jahreszahl und das Wort »Grabkapelle« oben auf die Seite, als Beweis, wo sie das Notenblatt gefunden hatte. Sie steckte es in die Tasche und begann, die Kapelle systematisch zu durchsuchen. Sie schob die Finger in staubige Ecken und Ritzen, suchte nach verborgenen Hohlräumen, fand aber nichts, wo man einen Satz Karten hätte verstecken können.
    Aber wenn nicht hier, wo dann?
    Sie ging um den Altar herum. Jetzt hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt, und sie meinte, die Umrisse einer schmalen Tür zu erkennen, die kaum sichtbar zwischen den acht Wandfeldern der Apsis eingelassen war. Sie hob die Hand, tastete die Oberfläche nach einer Unebenheit ab und stieß auf eine kleine Vertiefung, vielleicht die Spur einer alten Öffnung, die einst benutzt worden war. Sie drückte fest dagegen, doch nichts geschah, nichts bewegte sich. Falls dort mal eine Tür gewesen war, so ließ sie sich jetzt jedenfalls nicht mehr benutzen.
    Léonie trat zurück, die Hände in den Hüften. Sie fand sich nur ungern damit ab, dass die Karten nicht hier waren, aber sie hatte jedes mögliche Versteck überprüft. Ihr blieb bloß noch die Möglichkeit, das Buch erneut zu konsultieren und darin nach Antworten zu suchen. Jetzt, wo sie hier gewesen war, würden sich ihr die geheimen Bedeutungen des Textes sicherlich erschließen.
    Falls es überhaupt welche gibt.
    Wieder schaute Léonie zu den Fenstern hinauf. Das Licht wurde schwächer. Die schrägen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume drangen, waren weitergewandert, und die Scheiben hatten sich verdunkelt. Wie schon zuvor hatte sie das Gefühl, dass die Augen der Gipsstatuen auf sie

Weitere Kostenlose Bücher