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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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länger das Verhör anhielt, desto mehr fiel die Angst, die sie in der Grabkapelle gepackt hatte, von ihr ab. Kaum hatte Léonie sich wieder gefangen, verteidigte sie sich, denn Anatoles Entschlossenheit, den Vorfall hochzuspielen, weckte in ihr den Wunsch, das Gegenteil zu tun.
    »Ich bin kein Kind mehr«, schleuderte sie ihm entgegen, verärgert darüber, so ungerecht behandelt zu werden. »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.«
    »Nein, das kannst du nicht«, schrie er. »Du bist erst siebzehn.«
    Léonie warf ihre Lockenpracht mit Schwung nach hinten. »Du klingst, als hättest du Angst gehabt, ich wäre entführt worden.«
    »Mach dich nicht lächerlich«, zischte er, doch Léonie bemerkte, wie er und Isolde Blicke wechselten.
    Ihre Augen wurden schmal. »Was ist los?«, sagte sie langsam. »Was um alles in der Welt ist denn geschehen, dass du dermaßen überreagierst? Was verschweigst du mir?«
    Anatole öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, so dass Isolde einschritt.
    »Es tut mir leid, wenn Ihnen unsere Sorge übertrieben erscheint. Selbstverständlich steht es Ihnen völlig frei, spazieren zu gehen, wo immer Sie möchten. Aber in letzter Zeit gab es Berichte von wilden Tieren, die in der Dämmerung bis herunter ins Tal kommen. Nicht weit von Rennes-les-Bains wurden Bergkatzen gesichtet, vielleicht auch Wölfe.«
    Léonie wollte die Erklärung gerade hinterfragen, als sie sich überdeutlich an das Geräusch von Krallen auf den Bodenplatten der Grabkapelle erinnerte. Sie schauderte. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, wodurch ihr Abenteuer so unvermittelt in etwas gänzlich anderes umgeschlagen war. Nur, dass sie in dem Augenblick, als sie die Flucht ergriff, geglaubt hatte, in Lebensgefahr zu sein. Durch was, das wusste sie nicht.
    »Da siehst du mal, wie unvorsichtig du warst«, tobte Anatole.
    »Anatole, genug jetzt«, sagte Isolde leise und berührte ihn sacht am Arm.
    Zu Léonies Verblüffung verstummte er und wandte sich mit einem empörten Seufzer ab, die Hände auf den Hüften.
    »Außerdem soll wieder ein Unwetter aus den Bergen heranziehen«, sagte Isolde. »Wir hatten Sorge, Sie würden von dem Gewitter überrascht werden.«
    Ihre Bemerkung wurde von einem unheimlichen Donnergrollen unterbrochen. Alle drei sahen zu den Fenstern hinüber. Dunkle, unheilverkündende Wolken trieben jetzt schnell über die Berggipfel dahin. Ein weißlicher Nebel hing zwischen den Bergen in der Ferne wie der Rauch eines Lagerfeuers. Ein erneutes Grollen, diesmal näher, ließ die Scheiben klirren.
    »Kommen Sie«, sagte Isolde und nahm Léonies Arm. »Das Mädchen soll ein heißes Bad für Sie vorbereiten, danach essen wir zu Abend und machen es uns vor dem Kamin im Salon gemütlich. Und spielen vielleicht noch eine Partie Karten? Bézique,
vingt-et-un,
was Sie möchten.«
    Léonie erinnerte sich an etwas. Sie schaute nach unten in ihre Handflächen, die weiß vor Kälte waren. Da war nichts zu sehen. Keine roten Male, die sich in ihre Haut gebrannt hatten.
    Sie ließ sich auf ihr Zimmer führen.
     
    Erst eine Weile später, als die Glocke bereits zum Abendessen geläutet hatte, nahm Léonie sich die Zeit, sich im Spiegel zu betrachten.
    Sie glitt auf den Stuhl vor dem Frisiertisch und starrte unverwandt in den Spiegel. Ihre Augen leuchteten zwar, waren aber fiebrig. Auf ihrer Haut hatte sich deutlich die Erinnerung an die Angst eingeprägt, wie eingebrannt, und sie fragte sich, ob Isolde oder Anatole es nicht ebenfalls bemerken würden.
    Léonie zögerte, weil sie ihre angegriffenen Nerven nicht wieder aufregen wollte, doch dann stand sie auf und holte
Les Tarots
aus ihrem Handarbeitskasten. Mit zaghaften Fingern blätterte sie die Seiten um, bis sie zu der Passage kam, die sie suchte.
    Ein Rauschen lag in der Luft, und ich hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Jetzt war ich sicher, dass die Grabkapelle voller Wesen war. Geister, ich kann nicht sagen, dass sie menschlich waren. Alle Regeln der Natur wurden aufgehoben. Alle Entitäten waren gleichzeitig anwesend. Mein Selbst und andere Formen meines Selbst, vergangene und zukünftige, waren gleichermaßen gegenwärtig … Mir schien, als schwebten und flögen sie durch die Luft, so dass mir ihre flüchtige Präsenz allzeit gegenwärtig war … Vor allem in der Luft über meinem Kopf war eine unaufhörliche Bewegung zu spüren, begleitet von einer Kakophonie aus Flüstern, Seufzen und Weinen.
    Léonie klappte den Text zu.
    Es entsprach so

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