Die achte Karte
haben.
Sie schloss den Mund wieder und sagte nichts. Der Wind ließ nicht nach. Und ihre rastlose Phantasie gönnte ihr keine Ruhe.
Kapitel 42
∞
A ls Léonie am folgenden Morgen erwachte, stellte sie erstaunt fest, dass sie auf der Chaiselongue im Salon der Domaine de la Cade lag und nicht in ihrem Zimmer.
Das frühe Morgenlicht fiel in goldenen Strahlen durch die Spalten in den Fenstervorhängen. Das Feuer im Kamin war erloschen. Auf dem Tisch waren noch die Spielkarten und die leeren Gläser vom Vorabend.
Léonie setzte sich auf und lauschte eine Weile in die Stille hinein. Nach all dem Toben und Hämmern von Regen und Wind herrschte jetzt eine tiefe Ruhe. Das alte Haus knarrte und ächzte nicht mehr. Der Sturm war weitergezogen.
Sie lächelte. Die Schrecken der vergangenen Nacht – die Gedanken an Geister und Teufel – muteten in dem milden Morgenlicht nahezu lächerlich an. Schon bald vertrieb sie der Hunger von dem gemütlichen Sofa. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür und hinaus in die Halle. Die Luft war kühl, und überall roch es durchdringend nach Feuchtigkeit, aber es lag eine Frische in der Luft, die am Vorabend gefehlt hatte. Sie trat zu der Durchgangstür, die den vorderen Bereich des Hauses von den Unterkünften der Bediensteten trennte, und spürte die kalten Fliesen durch die dünnen Sohlen ihrer
savates,
als sie einen langen Korridor hinunterging. Hinter einer zweiten Tür am Ende des Flurs hörte sie Stimmen und das Klappern von Kochutensilien. Irgendjemand pfiff vor sich hin.
Léonie betrat die Küche. Sie war kleiner, als sie gedacht hatte, ein freundlicher quadratischer Raum mit gewachsten Wänden und schwarzen Balken, von denen eine Vielzahl von Töpfen mit Kupferboden und andere Küchengeräte hingen. Der Herd stand in einem großen Rauchabzug, in dem auf beiden Seiten Platz für eine Steinbank war, und auf der schwarzen Herdplatte brodelte ein Topf.
Die Köchin hielt eine Holzkelle mit langem Griff in der Hand, als sie sich zu der unerwarteten Besucherin umdrehte. Stuhlbeine schrammten über die Fliesen, als die anderen Dienstboten, die gerade an dem abgenutzten Tisch in der Mitte des Raumes frühstückten, aufstanden.
»Bitte bleibt sitzen«, sagte Léonie rasch. Es war ihr unangenehm, die Leute zu stören. »Ich wollte fragen, ob ich einen Schluck Kaffee bekommen kann. Und vielleicht auch etwas Brot.«
Die Köchin nickte. »Ich mache Ihnen ein Tablett fertig, Madomaisèla. Im Morgenzimmer?«
»Ja, vielen Dank. Ist sonst schon jemand heruntergekommen?«, fragte sie.
»Nein, Madomaisèla. Sie sind die Erste.«
Der Tonfall war höflich, machte aber unmissverständlich klar, dass sie hier unerwünscht war.
Dennoch blieb Léonie stehen. »Hat das Unwetter irgendwelche Schäden angerichtet?«
»Nichts, was nicht wieder behoben werden kann«, sagte die Köchin.
»Keine Überflutungen?«, fragte Léonie, die Sorge hatte, das Diner am Samstag, auch wenn es noch einige Tage hin war, müsste verschoben werden, falls die Straße vom Ort herauf beschädigt war.
»Aus Rennes-les-Bains ist nichts Ernstes gemeldet worden. Eines der Mädchen hat gehört, dass es in Alet-les-Bains einen Erdrutsch gegeben haben soll. Die Postkutsche sitzt drüben in Limoux fest.« Die Köchin wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Falls sonst nichts ist, würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen, Madomaisèla? Für heute Abend gibt es noch einiges vorzubereiten.«
Léonie blieb keine andere Wahl, als sich zurückzuziehen. »Natürlich.«
Als sie die Küche verließ, schlug die Uhr in der Halle sieben. Sie schaute durch die Fenster nach draußen und sah einen rosa Himmel mit weißen Wölkchen. Im Park hatte man begonnen, das Laub zusammenzuharken und die Zweige und Äste aufzusammeln, die von den Bäumen gerissen worden waren.
Die folgenden Tage verliefen friedlich.
Léonie bewegte sich frei in Haus und Park. Sie frühstückte auf ihrem Zimmer und konnte den Morgen nach Lust und Laune verbringen. Häufig sah sie ihren Bruder und Isolde erst zum Mittagessen. An den Nachmittagen unternahmen sie und Isolde, so das Wetter es zuließ, ausgedehnte Spaziergänge auf dem Anwesen, oder sie erkundeten das Haus. Ihre Tante war stets aufmerksam und freundlich, hatte aber einen scharfen und oft amüsanten Geist. Sie spielten Rubinstein-Duette auf dem Klavier, holprig und mit mehr Vergnügen als Kunstfertigkeit, und vertrieben sich an den Abenden die Zeit mit kurzweiligen Gesellschaftsspielen.
Weitere Kostenlose Bücher