Die achte Karte
medizinische Forschung interessiert als für die banalen Scherze, die ich zu bieten hatte.«
Mit einem Lächeln bestätigte Gabignaud Anatoles Einschätzung. »Saunière ist ein ungemein belesener Mann, auf allen möglichen Gebieten. Er giert nach Wissen. Stellt unaufhörlich Fragen.«
Léonie betrachtete den Pfarrer noch einen Moment, dann wanderte ihr Blick weiter.
»Und die Dame neben ihm?«
»Madame Bousquet, eine entfernte Verwandte unseres Onkels.« Anatole senkte die Stimme. »Hätte Lascombe sich nicht berufen gefühlt, zu heiraten, hätte sie die Domaine de la Cade geerbt.«
»Und doch hat sie die Einladung zum Diner angenommen?«
Er nickte. »Madame Bousquet und Isolde haben zwar nicht gerade ein schwesterliches Verhältnis, aber sie gehen gesittet miteinander um. Sie empfangen sich gegenseitig. Isolde bewundert sie sogar.«
Erst jetzt bemerkte Léonie einen großen, sehr dünnen Mann, der leicht verdeckt hinter einer kleinen Gruppe stand. Sie wandte sich halb um und betrachtete ihn. Er trug, was überaus ungewöhnlich war, einen weißen Anzug statt der herkömmlichen schwarzen Abendgarderobe, und aus der Brusttasche seines Jacketts ragte ein auffälliges gelbes Taschentuch. Auch seine Weste war gelb.
Sein Gesicht war von Falten durchzogen und seine Haut beinahe durchsichtig vom Alter, und doch kam es Léonie so vor, als hätte er nichts Greisenhaftes an sich. Doch irgendwie war eine unterschwellige Traurigkeit an ihm, dachte sie. Als wäre er ein Mann, der viel gesehen und erlitten hatte.
Anatole drehte sich um, um zu sehen, wer oder was ihre Aufmerksamkeit so gefesselt haben mochte. Er beugte sich näher zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr. »Ah, das ist der berühmteste Gast von Rennes-les-Bains, Audric Baillard, Verfasser jener seltsamen kleinen Schrift, die dich so beschäftigt hat.« Er schmunzelte. »Scheint recht exzentrisch zu sein. Gabignaud hat mir erzählt, dass er sich immer auf diese eigentümliche Weise kleidet, egal zu welcher Gelegenheit. Immer in einem hellen Anzug, immer mit gelber Krawatte.«
Léonie wandte sich an den Arzt. »Aus welchem Grund?«, fragte sie halblaut.
Gabignaud zuckte lächelnd die Achseln. »Ich glaube, in Erinnerung an verlorene Freunde, Mademoiselle Vernier. Gefallene Kameraden, ich bin nicht ganz sicher.«
»Du kannst ihn ja selbst fragen,
petite,
beim Diner«, sagte Anatole.
Das Gespräch plätscherte dahin, bis der Gong geschlagen wurde, der die Gesellschaft zu Tisch rief.
Isolde wurde von Maître Fromilhague geleitet, als sie ihre Gäste aus dem Salon und durch die Halle führte. Anatole begleitete Madame Bousquet. Léonie ging am Arm von Monsieur Denarnaud, behielt aber Monsieur Baillard im Blick. Abbé Saunière und Dr. Gabignaud nahmen Mademoiselle Denarnaud in die Mitte und bildeten die Nachhut.
Pascal, der in der geliehenen rotgoldenen Livree ganz prächtig aussah, stieß die Türen auf, als die Gesellschaft näher kam. Sogleich ertönte ein anerkennendes Raunen. Selbst Léonie, die den Speisesaal den ganzen Morgen über in den verschiedenen Phasen der Vorbereitung gesehen hatte, war ganz geblendet von dessen Verwandlung. An dem herrlichen gläsernen Kronleuchter strahlten drei Reihen weißer Wachskerzen. Der lange ovale Tisch war mit zahllosen frischen Lilien geschmückt und wurde von drei silbernen Armleuchtern in festlichen Glanz getaucht. Auf der Anrichte standen Servierschüsseln mit gewölbten Deckeln, die wie Rüstungen schimmerten. Das Licht der Kerzen ließ Schatten über die an den Wänden hängenden gemalten Gesichter vergangener Generationen der Familie Lascombe tanzen.
Durch das Verhältnis von vier Damen und sechs Herren war die Sitzordnung ein wenig ungleichmäßig.
Isolde nahm am Kopfende Platz und Monsieur Baillard am Fußende. Anatole saß links von Isolde, während Maître Fromilhague zu ihrer Rechten plaziert wurde. Neben Fromilhague war Mademoiselle Denarnaud und gleich neben ihr Dr. Gabignaud. Als Nächstes kam Léonie, so dass Audric Baillard rechts von ihr saß. Sie lächelte schüchtern, als der Diener ihren Stuhl hervorzog und sie sich setzte.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches hatte Anatole das Vergnügen von Madame Bousquets Gesellschaft, dann kam Charles Denarnaud und schließlich Abbé Saunière.
Die Diener füllten flache schalenartige Gläser mit reichlich Blanquette de Limoux. Fromilhague richtete seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Gastgeberin und ignorierte Denarnauds Schwester
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