Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
Vom Netzwerk:
bin ich in der Tat nicht.«
    »Tante Isolde wünscht, dass die Bediensteten im Haus Französisch sprechen, aber sie rutschen so häufig ins Okzitanische, dass sie es aufgegeben hat, sie deswegen zu schelten.«
    »Okzitanisch ist die Sprache dieses Landes. Aude, Ariège, Corbières, Razès – und noch weiter bis nach Spanien und ins Piemont hinein. Die Sprache der Dichtung, der Geschichten und Überlieferungen.«
    »Dann stammen Sie also aus dieser Gegend, Monsieur Baillard?«
    »Pas luènh«,
entgegnete er geschickt ausweichend.
    Auf die Erkenntnis, dass er für sie die Worte übersetzen könnte, die sie als Inschrift über der Tür zur Grabkapelle gesehen hatte, folgte sogleich die Erinnerung an das Schaben von Krallen auf Steinplatten, wie das Kratzen eines gefangenen Tieres.
    Sie schauderte. »Aber sind derartige Geschichten wahr, Monsieur Baillard?«, fragte sie. »Diese Erzählungen von Geistern und Gespenstern und Dämonen. Sind sie wahr?«
    »
Vertat?«,
sagte er und hielt mit seinen glänzenden Augen ihren Blick für einen Moment fest. »Wahr? Wer kann das sagen, Madomaisèla? Manche glauben, der Schleier, der eine Dimension von der anderen trennt, ist so transparent, so durchscheinend, nahezu unsichtbar. Andere würden behaupten, dass nur die Gesetze der Wissenschaft vorschreiben, was wir glauben dürfen und was nicht.« Er hielt inne. »Ich für mein Teil kann Ihnen nur sagen, dass die Einstellungen sich im Laufe der Zeit ändern. Was ein Jahrhundert als Tatsache betrachtet, gilt in einem anderen als Ketzerei.«
    »Monsieur Baillard«, sagte Léonie rasch, »bei der Lektüre Ihres Buches habe ich mich gefragt, ob sich Legenden vielleicht an der natürlichen Landschaft orientieren. Verdanken der Fauteuil du Diable oder der Étang du Diable ihre Namen den Geschichten, die man sich in dieser Gegend erzählt, oder sind die Geschichten entstanden, um den Örtlichkeiten gerecht zu werden?«
    Er lächelte. »Das ist eine scharfsinnige Frage, Madomaisèla.«
    Baillard sprach leise, und doch hatte Léonie den Eindruck, als wichen alle anderen Geräusche vor seiner klaren zeitlosen Stimme zurück. »Was wir Zivilisation nennen, ist lediglich das Bemühen des Menschen, der natürlichen Welt seine Werte aufzuzwingen. Bücher, Musik, Malerei, all diese künstlichen Dinge, die unsere Mitgäste heute Abend so beschäftigt haben, sind nur Bestrebungen, die Seele dessen zu erfassen, was wir um uns sehen. Es sind Versuche, einen Sinn zu finden, unsere menschlichen Erfahrungen in etwas einzuordnen, was überschaubar und kontrollierbar ist.«
    Léonie starrte ihn einen Moment an. »Aber Geister, Monsieur Baillard, und Teufel«, sagte sie langsam. »Glauben Sie an Geister?«
    »
Benleu«,
sagte er mit seiner leisen und festen Stimme. Vielleicht.
    Er wandte den Kopf zum Fenster, als erwarte er, dahinter jemanden zu sehen, dann schaute er wieder Léonie an.
    »Ich kann Ihnen so viel sagen. Schon zweimal wurde der Teufel beschworen, der hier umgeht. Und zweimal wurde er besiegt.« Er schaute nach rechts zur Seite. »Das letzte Mal mit Hilfe unseres Freundes hier.« Er zögerte kurz. »Solche Zeiten möchte ich nicht noch einmal durchleben, es sei denn, es gibt keine andere Wahl.«
    Léonie folgte seinem Blick. »Abbé Saunière?«
    Baillard schien sie gar nicht gehört zu haben. »Diese Berge, diese Täler, diese Steine – und der Geist, der ihnen Leben einhauchte – existierten schon lange, bevor die Menschen kamen und versuchten, das Wesen uralter Dinge mit Sprache zu erfassen. In den Namen, die Sie eben nannten, spiegeln sich nur unsere Ängste.«
    Léonie dachte darüber nach, was er gesagt hatte. »Aber ich glaube, Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Monsieur Baillard.«
    Er legte beide Hände auf den Tisch. Léonie konnte die blauen Adern und braunen Altersflecken sehen, die seine weiße Haut zeichneten. »Es gibt einen Geist, der allen Dingen innewohnt. Wir sitzen hier in einem Haus, das vor mehreren hundert Jahren erbaut wurde. Es ist alt, ja, uralt, nach modernen menschlichen Maßstäben. Aber es steht an einem Ort, der viele Abertausende von Jahren alt ist. Unser Einfluss auf das Universum ist bloß ein Flüstern. Sein wesentlicher Charakter, seine hellen und dunklen Seiten, entstanden Jahrtausende, bevor der Mensch versuchte, der Landschaft seinen Stempel aufzudrücken. Die Geister derjenigen, die uns vorausgingen, sind überall um uns herum, eingesponnen in das Muster, in die Musik der Welt, wenn Sie so

Weitere Kostenlose Bücher