Die achte Karte
nahezu, was Léonie unhöflich fand, obgleich sie es ihm nicht ganz verdenken konnte. Während des kurzen Gesprächs, das sie mit ihr geführt hatte, war ihr die Frau überaus geistlos erschienen.
Nachdem Anatole einige höfliche Floskeln mit Madame Bousquet ausgetauscht hatte, hörte Léonie, dass er mit Maître Fromilhague eine angeregte Konversation über Literatur begonnen hatte. Fromilhague war ein Mann mit festen Ansichten, und er lehnte Monsieur Zolas jüngsten Roman
L’Argent
als geschmacklos und unmoralisch ab. Zudem verdammte er auch andere Vertreter aus Zolas Umfeld, so zum Beispiel Guy de Maupassant, der angeblich unter Halluzinationen litt und Angst hatte, verrückt zu werden. Vergeblich gab Anatole zu bedenken, dass Leben und Werk eines Autors unabhängig voneinander betrachtet werden sollten.
»Eine unmoralische Lebensführung verdirbt die Kunst«, lautete Fromilhagues starrköpfige Antwort.
Es dauerte nicht lange, bis sich fast der gesamte Tisch an der Debatte beteiligte.
»Sie sind so still, Madomaisèla Léonie«, drang eine Stimme an ihr Ohr. »Interessieren Sie sich nicht für Literatur?«
Erleichtert wandte sie sich Audric Baillard zu. »Ich lese für mein Leben gern. Aber in einer Gesellschaft wie dieser ist es schwer, seiner Meinung Gehör zu verschaffen.«
Er lächelte. »Ah, wie wahr.«
»Und ich gebe zu«, sprach sie leicht errötend weiter, »dass ich einen Großteil der zeitgenössischen Literatur zutiefst langweilig finde. Seite um Seite immer nur Ideen, eine kunstvolle Sprache und kluge Gedanken, aber nie geschieht etwas!«
Seine Augen blickten leicht amüsiert. »Ihre Phantasie wird also eher von der Handlung gefesselt?«
Léonie lächelte. »Mein Bruder Anatole sagt immer, dass ich einen ziemlich schlechten Geschmack habe, und vermutlich hat er recht. Der spannendste Roman, den ich je gelesen habe, war
Das Schloss von Otranto,
aber mir gefallen auch die Schauergeschichten von Amelia B. Edwards und einfach alles von Monsieur Poe.«
Baillard nickte. »Er hatte eine große Begabung. Ein gestörter Mensch, aber ein Meister darin, die dunkle Seite unserer menschlichen Natur zu erfassen, finden Sie nicht auch?«
Léonie war erstaunt und erfreut zugleich. In Paris hatte sie nur allzu viele öde Soireen durchstehen müssen, mehr oder weniger ignoriert von der Mehrheit der Gäste, die anscheinend glaubten, dass es sich nicht lohne, ihre Meinung anzuhören. Monsieur Baillard schien da anders zu sein.
»Doch, doch«, bestätigte sie. »Meine Lieblingsgeschichte von Monsieur Poe ist ›Das verräterische Herz‹, die ich immer wieder gern lese, obwohl ich jedes Mal danach Alpträume habe, wie ich gestehen muss. Ein Mörder, der vom pochenden Herzschlag des Mannes, den er getötet und unter den Dielenbrettern versteckt hat, in den Wahnsinn getrieben wird. Einfach genial!«
»Schuld ist ein machtvolles Gefühl«, sagte er leise.
Léonie sah ihn einen Moment lang aufmerksam an, in der Erwartung, dass er das näher erläutern würde, aber er sprach nicht weiter.
»Darf ich mir eine unverfrorene Frage erlauben, Monsieur Baillard?«
»Selbstverständlich.«
»Ihre Garderobe ist sehr … nun ja …« Sie brach ab, wollte ihn nicht kränken.
Baillard lächelte. »Unkonventionell? Entspricht nicht der üblichen Uniform?«
»Uniform?«
»Was feine Herren heutzutage zu einem Diner tragen«, sagte er mit blitzenden Augen.
Léonie seufzte. »Ja schon. Aber eigentlich interessiert mich mehr das, was mein Bruder gesagt hat, dass Sie bekannt dafür sind, stets Gelb zu tragen. In Erinnerung an gefallene Kameraden, vermutete Dr. Gabignaud.«
Audric Baillards Gesicht schien sich zu verdunkeln.
»Das ist richtig«, sagte er leise.
»Haben Sie bei Sedan gekämpft?«, fragte sie und stockte dann. »Oder … Mein Papa hat für die Kommune gekämpft. Ich habe ihn nicht mehr kennengelernt. Er wurde deportiert und …«
Audric Baillard legte kurz eine Hand auf ihre. Sie spürte seine papierdünne Haut und die Zartheit seiner Berührung durch den Stoff der Handschuhe. Léonie konnte sich nicht erklären, was sie in diesem Moment überkam, sie merkte nur, wie sie einen Kummer, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass er sie quälte, plötzlich in Worte fasste.
»Monsieur Baillard, ist es denn immer richtig, für das zu kämpfen, woran man glaubt?«, sagte sie leise. »Ich habe mich das oft gefragt. Selbst wenn es die Menschen, die einem nahestehen, so viel kostet?«
Er drückte ihre
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