Die achte Karte
Liebe wird auf die Probe gestellt werden. Sie werden angehalten sein, zu handeln. Die Lebenden werden Ihrer Dienste bedürfen, nicht die Toten. Gehen Sie nicht wieder zu der Grabkapelle, nicht ehe es absolut unumgänglich für Sie wird.«
»Aber ich …«
»Ich rate Ihnen, Madomaisèla,
Les Tarots
zurück in die Bibliothek zu bringen. Vergessen Sie alles, was Sie darin gelesen haben. Es ist in so vielerlei Hinsicht ein betörendes Werk, ein verlockendes Werk, doch vorläufig sollten Sie die ganze Sache vergessen.«
»Monsieur Baillard, ich …«
»Sie sagten, Sie fürchten, die Worte des Büchleins vielleicht missverstanden zu haben.« Er hielt inne. »Das haben Sie nicht, Léonie. Sie haben sie genau richtig verstanden.«
Der Gebrauch ihres Vornamens ohne Anrede ließ sie zusammenzucken. »Dann ist es also wahr? Dass die Karten die Geister der Toten beschwören können?«
Er antwortete nicht direkt. »Im richtigen Zusammenwirken von Klang und Bild und Ort kann es dazu kommen.«
Ihr drehte sich der Kopf. Sie hatte tausend Fragen auf der Zunge, fand aber keine Worte.
»Léonie«, sagte er abermals, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Sparen Sie Ihre Kräfte für die Lebenden. Für Ihren Bruder. Für seine Frau und sein Kind. Denn sie werden Sie brauchen.«
Frau? Kind?
Ihr Vertrauen in Monsieur Baillard geriet augenblicklich ins Wanken. »Nein, Sie irren. Anatole hat keine …«
In diesem Moment klang Isoldes Stimme vom Kopfende des Tisches herüber.
»Meine Damen, darf ich bitten?«
Sogleich war allenthalben das Rücken und Schieben von Stühlen über den gebohnerten Holzboden zu hören, als die Gäste sich vom Tisch erhoben.
Léonie kam unsicher auf die Beine. Die Falten ihres grünen Kleides glitten wie Wasser zu Boden.
»Ich verstehe nicht, Monsieur Baillard. Ich dachte, ich hätte verstanden, aber jetzt merke ich, dass dem nicht so ist.« Sie verstummte, merkte, wie berauscht sie war. Es war plötzlich äußerst schwierig, sich überhaupt aufrecht zu halten. Sie streckte eine Hand aus, um sich an der Rückenlehne des Stuhls abzustützen.
»Werden Sie meinen Rat beherzigen?«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte sie und brachte ein schiefes Lächeln zustande. Sie wusste nicht mehr, welche Worte laut ausgesprochen worden waren und welche sie nur in ihrem wirren Kopf gesagt hatte.
»Ben, ben.
Gut. Das beruhigt mich. Obwohl …« Er zögerte erneut, als wäre er unentschlossen, ob er weitersprechen sollte. »Sollte die Zeit kommen, in der Sie die Kraft der Karten benötigen, Madomaisèla, dann vergessen Sie eines nicht. Sie können mich rufen. Und ich werde Ihnen helfen.«
Sie nickte, und abermals drehte sich ihr alles vor Augen.
»Monsieur Baillard«, sagte sie, »Sie haben mir nicht gesagt, was die zweite Inschrift bedeutet. Die auf dem Boden.«
»Fujhi, poudes; Escapa, non?«
»Ja, genau diese Worte.«
Seine Augen verdunkelten sich. »Fliehen kannst du; entkommen kannst du nicht.«
[home]
Sechster Teil
Rennes-le-Château
Oktober 2007
Kapitel 44
Dienstag, 30 . Oktober 2007
M eredith erwachte am nächsten Morgen nach dem unterbrochenen Schlaf mit pochendem Schädel. Die Kombination von Wein, dem Flüstern des Windes in den Bäumen und ihren verrückten Träumen hatte sie unruhig gemacht.
Sie wollte nicht über die Nacht nachdenken. Über Geister, Visionen. Was es bedeuten mochte. Sie musste konzentriert bleiben. Sie war hier, weil sie eine Aufgabe hatte, und nur darum sollte sie sich jetzt kümmern.
Meredith blieb unter der Dusche, bis das Wasser kalt wurde, nahm zwei Aspirin und trank eine Flasche Wasser. Sie rubbelte sich die Haare einigermaßen trocken, zog sich eine bequeme Jeans und einen roten Pullover an und ging dann zum Frühstück nach unten. Ein Riesenteller Rührei mit Schinken und Baguette, dazu vier Tassen starker französischer Kaffee, und sie fühlte sich wieder wie ein Mensch.
Wieder in ihrem Zimmer, sah sie noch einmal in ihrer Umhängetasche nach, ob sie alles Notwendige eingesteckt hatte – Handy, Kamera, Notizbuch, Stift, Sonnenbrille und eine Landkarte der Region –, dann ging sie ein wenig nervös in die Lobby, um sich mit Hal zu treffen. An der Rezeption war eine Warteschlange. Ein spanisches Paar beschwerte sich über zu wenige Handtücher auf dem Zimmer, ein französischer Geschäftsmann bestritt zusätzliche Gebühren auf seiner Rechnung, und außerdem wartete ein Berg von Gepäck darauf, im Bus einer englischen Reisegruppe verstaut zu werden, die
Weitere Kostenlose Bücher