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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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vorgehabt, ihm ihre Suche nach der Kapelle vielleicht doch zu verschweigen, aber angesichts seiner klugen forschenden Augen merkte sie, dass sie ihm nichts vormachen konnte.
    »Ich … ich habe dieses Grabmal gefunden«, sagte sie. »Es liegt ein Stück höher in östlicher Richtung, im Wald.«
    Léonie wandte ihr erhitztes Gesicht zu den offenen Fenstern. Auf einmal sehnte sie sich danach, im Freien zu sein, weg von den Kerzen, der Konversation, der verbrauchten Luft in dem überhitzten Raum. Dann fröstelte sie, als wäre ein Schatten hinter sie getreten.
    »Auch ich kenne die Kapelle.« Er hielt inne, wartete, fügte dann hinzu: »Und ich vermute, es gibt eine Frage, die Sie mir stellen möchten?«
    Léonie drehte ihm wieder den Kopf zu. »Auf dem Bogen über der Eingangstür der Grabkapelle war eine Inschrift.«
    Sie sprach sie nach, so gut sie konnte, doch die unbekannten Worte kamen ihr schwer über die Lippen.
    »Aïci lo tems s’en, va res l’Eternitat.«
    Er schmunzelte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Madomaisèla.«
    »Was bedeutet es?«
    »Es ist ein wenig verfremdet, aber im Wesentlichen bedeutet es: ›Hier, an diesem Ort, schreitet die Zeit hin zur Ewigkeit.‹«
    Einen Moment lang trafen sich ihre Augen. Ihre waren ein wenig glasig und glänzten von dem Blanquette, seine waren fest und ruhig und weise. Dann lächelte er. »Sie erinnern mich sehr an eine junge Frau, die ich einmal gekannt habe, Madomaisèla Léonie.«
    »Was ist aus ihr geworden?«, fragte Léonie, für einen Moment abgelenkt.
    Er antwortete nicht, aber sie sah, dass er sich gerade an sie erinnerte. »Ach, das ist eine andere Geschichte«, sagte er sanft. »Eine, die noch nicht reif ist, erzählt zu werden.«
    Léonie sah ihm an, wie er sich verschloss und in seine Erinnerungen zurückzog. Seine Haut wirkte auf einmal noch durchscheinender, die Furchen in seinem mageren Gesicht noch tiefer, wie in Stein gemeißelt.
    »Sie sprachen davon, dass Sie die Grabkapelle entdeckt haben«, sagte er. »Sind Sie hineingegangen?«
    Léonie versetzte sich zurück an jenen Nachmittag. »Das bin ich.«
    »Dann haben Sie auch die Inschrift auf dem Boden gelesen:
›Fujhi, poudes; Escapa, non.‹
Und jetzt stellen Sie fest, dass die Worte Sie verfolgen?«
    Léonies Augen weiteten sich. »Ja, aber wie können Sie das wissen? Ich weiß nicht einmal, was sie bedeuten, nur, dass sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.«
    Er zögerte kurz und sagte dann: »Verraten Sie mir eines, Madomaisèla, was, glauben Sie, haben Sie dort gefunden? Im Innern der Kapelle?«
    »Den Ort, wo die Geister umgehen«, hörte sie sich selbst sagen und wusste, dass es die Wahrheit war.
    Baillard schwieg, eine halbe Ewigkeit, so kam es ihr vor. »Vorhin haben Sie mich gefragt, ob ich an Geister glaube, Madomaisèla«, sagte er schließlich. »Es gibt viele unterschiedliche Arten von Geistern. Solche, die nicht ruhen können, weil sie Unrecht getan haben, die sich um Vergebung oder Buße bemühen müssen. Und auch solche, denen Unrecht angetan wurde und die dazu verdammt sind, umzugehen, bis sie jemanden finden, der der Gerechtigkeit Genüge tut und sich ihrer Sache annimmt.«
    Er sah sie an. »Haben Sie nach den Karten gesucht, Madomaisèla Léonie?«
    Sie nickte und bereute es sofort, denn durch die Bewegung begann der Raum zu kreisen. »Aber ich habe sie nicht gefunden.«
    Ihr war plötzlich so schlecht, dass sie kaum noch sprechen konnte. Ihr Magen rebellierte, schlug Purzelbäume, als wäre sie bei rauher See an Bord eines Schiffes. »Das Einzige, was ich gefunden habe, war ein Blatt mit Klaviernoten.«
    Ihre Stimme klang gedämpft, wattig, als würde sie unter Wasser sprechen.
    »Haben Sie es aus der Kapelle mitgenommen?«
    Léonie sah sich selbst, wie sie die Musik, mit den Worten, die sie darauf geschrieben hatte, in die tiefe Tasche ihrer Kammgarnjacke stopfte, während sie durch den Mittelgang der Grabkapelle rannte und hinaus in das Dämmerlicht des Waldes. Dann, später, wie sie sie zwischen die Seiten von
Les Tarots
schob.
    »Ja«, sagte sie, brachte das Wort nur mit Mühe über die Lippen. »Das habe ich.«
    »Léonie, hören Sie gut zu. Sie sind standhaft, und Sie sind mutig.
Forca e vertu,
beides gute Eigenschaften, wenn sie klug genutzt werden. Sie verstehen es zu lieben, gut zu lieben.« Er schaute über den Tisch zu Anatole hinüber, dann huschte sein Blick zu Isolde, ehe er zu Léonie zurückkehrte. »Ich fürchte, Ihnen stehen schwere Prüfungen bevor. Ihre

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