Die achte Karte
also nicht das Original-Bousquet-Tarot. Wie albern, dass er das, wenn auch nur kurz, überhaupt für möglich gehalten hatte.
Er richtete sich auf und sah die Karten durch, immer schneller, nur für den Fall, dass dieses Deck sich von den anderen unterschied, irgendetwas Besonderes hatte.
Nein. Es sah genauso aus wie das unten in seinem Safe. Keine zusätzlichen Worte, keine Abweichung bei den Bildern.
Julian zwang sich, in Ruhe nachzudenken. Diese Entdeckung stellte alles auf den Kopf, zumal sie der Information, die er von der westgotischen Grabstätte in Quillan erhalten hatte, praktisch auf dem Fuße folgte. Unter den Grabbeigaben war eine Schiefertafel gefunden worden, die die Existenz anderer Grabstätten in der Nähe der Domaine de la Cade bestätigte. Es war ihm heute Morgen noch nicht gelungen, seine Kontaktperson zu erreichen.
Doch die vordringliche Frage lautete: Wieso hatte Meredith Martin einen Nachdruck des Bousquet-Tarots bei sich? Noch dazu unten in ihrer Tasche versteckt. Das konnte kein Zufall sein. Vermutlich wusste sie zumindest von dem Originaltarotdeck und von dessen Verbindung zur Domaine de la Cade.
Was noch? Vielleicht hatte Seymour Hal mehr erzählt, als Julian bisher geglaubt hatte. Und falls Hal die Frau hergeholt hatte und ihr nicht einfach bloß hier über den Weg gelaufen war, dann ging es möglicherweise gar nicht darum, die Umstände des Unfalls zu untersuchen, sondern hatte mit den Karten zu tun.
Er brauchte einen Drink. Er schwitzte am Kragen und unter den Armen, nur weil er einen schockierenden Moment lang geglaubt hatte, die Originalkarten in Händen zu halten.
Julian wickelte das Tarotdeck wieder in das schwarze Seidentuch, legte es unten in die Tasche und stellte die Tasche zurück in den Schrank. Dann schaute er sich ein letztes Mal im Zimmer um. Alles sah so aus wie vorher. Und falls doch irgendwas verlegt worden war, würde Ms. Martin denken, die Zimmermädchen hätten das getan. Er trat auf den Flur und ging mit schnellen Schritten zurück zur Personaltreppe.
Die ganze Aktion hatte, vom Anfang bis zum Ende, keine fünfundzwanzig Minuten gedauert.
Kapitel 48
Rennes-le-Château
H al beendete die Umarmung als Erster. Seine blauen Augen glänzten vor Freude und vielleicht auch Erstaunen. Sein Gesicht war ein wenig gerötet.
Auch Meredith trat zurück. Die Stärke der körperlichen Anziehung zwischen ihnen machte sie beide jetzt, da der Augenblick vorüber war, leicht verlegen.
»Nun denn«, sagte er und schob die Hände in die Taschen.
Meredith schmunzelte. »Nun denn …«
Hal wandte sich dem Holztor zu, das quer über den Weg ging, und drückte dagegen. Er runzelte die Stirn und versuchte es erneut. Meredith hörte den Riegel klappern.
»Geschlossen«, sagte er. »Das darf nicht wahr sein, das Museum ist geschlossen. Sie müssen entschuldigen. Ich hätte vorher anrufen sollen.«
Sie sahen einander an. Dann lachten sie gleichzeitig los.
»Das Kurhaus in Rennes-les-Bains war auch geschlossen«, sagte Meredith. »Bis zum dreißigsten April.«
Wieder hing ihm sein volles Haar tief in die Stirn. Meredith hätte es gern zurückgestrichen, aber sie behielt ihre Hände bei sich.
»Wenigstens ist die Kirche auf«, sagte er.
Meredith ging neben ihm weiter, spürte seine körperliche Präsenz jetzt noch deutlicher. Er schien den ganzen Weg auszufüllen.
Dann zeigte er auf das dreieckige Vordach über der Tür.
»Die Inschrift da – TERRIBILIS EST LOCUS ISTE – ist ein weiterer Grund, warum sich die vielen Verschwörungstheorien um Rennes-le-Château so hartnäckig gehalten haben«, sagte er und räusperte sich. »Die Übersetzung lautet eigentlich ›Dieser Ort ist ehrfurchtgebietend‹, also
terribilis
im alttestamentarischen Sinne und nicht in der moderneren Bedeutung ›furchterregend, schrecklich‹, aber man kann sich vorstellen, wie es ausgelegt wurde.«
Meredith schaute hin, konzentrierte sich aber auf die andere, nur teilweise leserliche Inschrift an der Spitze. IN HOC SIGNO VINCES. Schon wieder Konstantin, der christliche Herrscher von Byzanz. Dieselbe Inschrift wie auf Henri Boudets Gedenktafel in Rennes-les-Bains. Sie stellte sich Lauras Karten ausgebreitet auf dem Tisch vor. Der Herrscher zählte zu den großen Arkana, bei Magier und La Prêtresse zu Anfang des Decks. Und das Passwort, das sie für ihren Internetzugang eingetippt hatte, war CONSTANTINE gewesen …
»Wer hat sich das Passwort für den Internetzugang im Hotel ausgedacht?«,
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