Die achte Karte
fragte sie.
Hal schien sich über die scheinbar zusammenhanglose Frage zu wundern, beantwortete sie aber trotzdem.
»Mein Onkel«, sagte er, ohne zu zögern. »Dad hatte es nicht mit Computern.« Er streckte den Arm aus und ergriff ihre Hand. »Sollen wir?«
Als sie die Kirche betraten, war Meredith verblüfft, wie extrem klein sie war, als wäre sie im Dreiviertelmaßstab erbaut worden. Die Perspektiven wirkten irgendwie falsch.
Auf der Wand rechts von der Tür waren handgeschriebene Zettel, manche Französisch, manche in unbeholfenem Englisch. Schmale silberne Lautsprecher hingen in den Ecken und beschallten den Raum mit irgendwelchen gregorianischen Gesängen.
»Die haben hier einiges zensiert«, sagte Hal leise. »Um den Gerüchten von geheimnisvollen Schätzen und Geheimgesellschaften entgegenzuwirken, hat man versucht, in alles eine katholische Botschaft hineinzupressen. Wie hier zum Beispiel.« Er tippte auf einen der Zettel. »Sehen Sie.
›Dans cette église le trésor c’est vous.‹
In dieser Kirche sind Sie der Schatz.«
Aber Meredith starrte auf das Weihwasserbecken gleich links von der Tür. Das
bénitier
ruhte auf den Schultern einer knapp einen Meter hohen Teufelsstatue. Das bösartige rote Gesicht, der krumme Körper, die beängstigenden, bohrenden blauen Augen. Sie hatte diesen Dämon schon mal gesehen. Oder wenigstens ein Bild von ihm. Auf dem Tisch in Paris, als Laura zu Beginn der Sitzung die großen Arkana ausgebreitet hat.
Le Diable. Karte XV des Bousquet-Tarots.
»Das ist Asmodeus«, sagte Hal. »Der traditionelle Hüter von Schätzen, Bewahrer von Geheimnissen und Erbauer des Tempels Salomos.«
Meredith berührte den fratzenhaften Dämon, der sich kalt und kalkig unter ihren Fingern anfühlte. Sie betrachtete seine verkrampften Krallenhände und schaute unwillkürlich durch die offene Tür zurück zu der Statue von Notre Dame de Lourdes, die reglos auf ihrem Pfeiler stand.
Sie schüttelte schwach den Kopf und hob die Augen zu dem Fries über dem Teufel. Vier Engel, die jeder jeweils einen Teil des Kreuzzeichens schlugen, und abermals die Gottesworte an Kaiser Konstantin, diesmal jedoch auf Französisch. Die Farben waren verblasst und rissig, als kämpften die Engel einen aussichtslosen Kampf.
Zu ihren Füßen umrahmten zwei Basilisken einen roten Einsatz mit den Lettern BS .
»Die Initialen könnten für Bérenger Saunière stehen«, sagte Hal. »Oder für Boudet und Saunière, oder für La Blanque und Le Sals, zwei Flüsse, die hier in der Nähe in einem Becken zusammenfließen, das man
le bénitier
nennt.«
»Kannten sich die beiden Pfarrer gut?«, fragte Meredith.
»O ja, sehr gut sogar. Boudet war ein Mentor für den jungen Saunière. Als Boudet sein Amt als Pfarrer antrat, verbrachte er einige Monate in der Gemeinde Durban, nicht weit von hier, und freundete sich dort mit einem dritten Geistlichen an, Antoine Gélis, der später Pfarrer in Coustaussa wurde.«
»Da bin ich gestern vorbeigefahren«, sagte Meredith. »Es sah zerfallen aus.«
»Das Schloss, ja. Das Dorf selbst ist zwar winzig, aber bewohnt. Nur eine Handvoll Häuser. Gélis starb unter recht merkwürdigen Umständen. Er wurde 1897 am Abend vor Allerheiligen ermordet.«
»Wurde der Täter gefasst?«
»Ich glaube nicht.« Hal blieb vor einer weiteren Gipsstatue stehen. »Saint Antoine, der Eremit«, sagte er. »Ein berühmter ägyptischer Heiliger des dritten oder vierten Jahrhunderts.«
Diese Information verdrängte alle Gedanken an Gélis aus Merediths Kopf.
Der Eremit. Schon wieder eine Karte der großen Arkana.
Die Hinweise darauf, dass das Bousquet-Tarot in dieser Gegend gemalt worden war, häuften sich. Diese kleine Kirche, die Maria Magdalena gewidmet war, bewies das. Meredith konnte sich nur nicht erklären, wie die Domaine de la Cade in das Ganze hineinpasste.
Und wie das alles mit meiner Familie zusammenhängt – oder auch nicht.
Meredith zwang sich, bei der Sache zu bleiben. Es brachte nichts, alles miteinander zu vermengen. Was, wenn Hal recht hatte und all die Mythen um Rennes-le-Château tatsächlich nur ersonnen worden waren, um die Aufmerksamkeit von dem Schwesterdorf unten im Tal abzulenken? Das schien nicht ganz abwegig, doch Meredith musste mehr in Erfahrung bringen, anstatt voreilige Schlüsse zu ziehen.
»Haben Sie genug gesehen?«, fragte Hal. »Oder möchten Sie noch ein bisschen bleiben?«
Noch immer tief in Gedanken, schüttelte Meredith den Kopf. »Wir können
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