Die achte Karte
versucht, sich Hal anzuvertrauen. Ihm von der Tarotsitzung in Paris zu erzählen, von ihrem Alptraum letzte Nacht, von den Karten, die in diesem Augenblick unten in ihrem Schrank lagen. Von dem eigentlichen Grund, der sie nach Rennes-les-Bains geführt hatte. Aber irgendetwas hielt sie zurück. Hal hatte im Augenblick mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Sie runzelte die Stirn, als sie an die vierwöchige Verzögerung zwischen dem Unfall und der Beerdigung dachte.
»Was genau ist mit Ihrem Vater passiert, Hal?«, fragte sie und stockte dann, weil sie dachte, zu schnell zu weit gegangen zu sein. »Entschuldigen Sie, das war taktlos von mir.«
Hal zeichnete mit der Schuhspitze ein Muster in die Erde. »Nein, kein Problem. Sein Wagen ist von der Straße abgekommen, in der Kurve kurz vor Rennes-les-Bains. Ist in den Fluss gestürzt.« Er sprach monoton, als halte er seine Stimme bewusst emotionslos. »Die Polizei hatte keine Erklärung. Es war eine klare Nacht. Kein Regen, nichts. Das Schlimmste war …«
Er verstummte.
»Sie müssen es mir nicht erzählen, wenn es Ihnen zu schwerfällt«, sagte sie leise und legte ihm eine Hand auf den Rücken.
»Es passierte in den frühen Morgenstunden, deshalb wurde das Auto erst einige Stunden später entdeckt. Er hatte noch versucht rauszukommen, deshalb war die Tür halb offen. Aber die Tiere waren schon an ihm dran gewesen. Sein Körper und sein Gesicht waren übel zugerichtet.«
»Es tut mir so leid.«
Meredith blickte nach hinten zu der Statue, zwang sich, keine gedankliche Verbindung herzustellen zwischen einem tragischen Autounfall im Jahr 2007 und dem alten Aberglauben, der offenbar in dieser Gegend am Werk war. Aber die Verflechtungen waren schwer zu übersehen.
Alle Systeme des Wahrsagens arbeiten mit Mustern, wie die Musik auch.
»Die Sache ist die, ich könnte es ja akzeptieren, wenn es ein Unfall war. Aber die sagen, er hätte getrunken, Meredith. Und ich weiß, dass er das niemals getan hätte.« Er senkte die Stimme. »Niemals. Wenn ich genau wüsste, was passiert ist, so oder so, dann wäre alles gut. Ich meine, nicht gut, aber ich könnte damit leben. Aber diese Unsicherheit. Warum war er überhaupt da, auf diesem Straßenabschnitt, um diese Uhrzeit? Ich will es einfach wissen.«
Meredith dachte an das tränennasse Gesicht ihrer leiblichen Mutter und an das Blut unter ihren Fingernägeln. Sie dachte an die Sepiafotos und das Musikstück und die Leere in ihrem Innern, die sie in diese Ecke Frankreichs getrieben hatte.
»Ich kann nicht mit dieser Ungewissheit leben«, wiederholte er. »Verstehen Sie das?«
Sie nahm ihn in die Arme und zog ihn an sich. Er reagierte, legte die Arme um sie und hielt sie eng umschlungen. Meredith passte genau unter seine breiten Schultern. Sie roch sein Aftershave und Seife, und die weiche Wolle seines Pullovers kitzelte sie an der Nase. Sie konnte seine Wärme spüren, seinen Zorn, seine Wut, und dann die Verzweiflung dahinter.
»Ja«, sagte sie leise. »Ich verstehe das.«
Kapitel 47
Domaine de la Cade
J ulian Lawrence wartete, bis die Zimmermädchen im ersten Stock fertig waren, bevor er sein Arbeitszimmer verließ. Die Fahrt nach Rennes-le-Château und wieder zurück würde mindestens zwei Stunden dauern. Er hatte reichlich Zeit.
Als Hal ihm erzählt hatte, er würde einen Ausflug machen, noch dazu mit einer jungen Frau, war Julian zunächst einmal erleichtert gewesen. Sie hatten sich sogar ein paar Minuten unterhalten, ohne dass Hal wutentbrannt davongestürmt war. Vielleicht war das ein Zeichen dafür, dass sein Neffe sich mit dem Geschehenen endlich abfand und wieder nach vorne schaute. Dass er seine Zweifel begrub.
Im Augenblick war noch einiges ungeklärt. Julian hatte bereits zart angedeutet, dass er bereit sei, seinem Neffen den geerbten Anteil an der Domaine de la Cade abzukaufen, hatte ihn aber nicht gedrängt. Dass die Sache bis nach der Beerdigung warten musste, war klar gewesen, aber allmählich verlor er die Geduld.
Dann hatte Hal erwähnt, dass die fragliche Frau Schriftstellerin sei, und Julian war misstrauisch geworden. So wie Hal sich in den letzten vier Wochen aufgeführt hatte, war dem Jungen glatt zuzutrauen, dass er versuchen würde, bei irgendwelchen Journalisten Interesse für den Unfalltod seines Vaters zu wecken, nur so aus Prinzip.
Julian wusste aus dem Anmeldeverzeichnis, dass sie Amerikanerin war, Meredith Martin, und bis Freitag gebucht hatte. Er wusste nicht, ob sie Hal schon
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