Die achte Karte
Erleichtert sah sie den Argwohn in seinen Augen dahinschmelzen.
»Wissen Sie wirklich nicht, wo Ihr Sohn heute Abend ist?«
»Natürlich weiß ich es«, sagte sie und lächelte, als würde sie ihn in einen Scherz einweihen, »aber Vorsicht hat noch niemandem geschadet. Ich kann geschwätzige Frauen nicht leiden.«
Er nickte erneut. Marguerite wollte, dass Georges sie für diskret und zuverlässig hielt.
»Völlig richtig, völlig richtig.«
»Genauer gesagt, Anatole ist mit Léonie in die Oper gegangen. Zur Premiere des neuesten Werks von Wagner.«
»Verdammte preußische Propaganda«, grollte Georges. »So was gehört verboten.«
»Und ich glaube, anschließend wollte er sie noch zum Abendessen ausführen.«
»Bestimmt in eines dieser fürchterlichen Lokale wie Le Café de la Place Blanche. Ein Tummelplatz für Künstler und was weiß ich noch alles.« Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Wie heißt dieser andere Laden auf dem Boulevard Rochechouart noch gleich? Den sollten sie dichtmachen.«
»Le Chat Noir«, sagte Marguerite.
»Faulenzer, alle miteinander«, erklärte Georges, der sich für dieses neue Thema erwärmte. »Die klatschen Farbtupfer auf ein Stück Leinwand und nennen das Kunst: Was ist denn das für ein Beruf für einen Mann? Und dieser unverschämte Bursche, der in Ihrem Haus lebt, dieser Debussy? Kerle wie der gehören ausgepeitscht, alle miteinander.«
»Achille ist Komponist, mein Lieber«, schalt sie ihn sanft.
»Parasiten, alle miteinander. Immer griesgrämig. Hämmert Tag und Nacht auf dem Klavier herum, mich wundert, dass sein Vater ihm nicht mal eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Das würde ihn vielleicht zur Vernunft bringen.«
Marguerite unterdrückte ein Schmunzeln. Da Achille ein Altersgenosse von Anatole war, fand sie es ein wenig spät für derartige Erziehungsmaßnahmen. Und außerdem war Madame Debussy viel zu rasch mit Schlägen bei der Hand gewesen, als ihre Kinder noch klein waren, und es hatte offensichtlich nicht das Geringste bewirkt.
»Dieser Champagner ist wirklich ganz köstlich, Georges«, sagte sie, um das Thema zu wechseln. Sie beugte sich über den Tisch und nahm seine Finger, drehte dann seine Hand um und presste ihm ihre Fingernägel in die Handfläche. »Sie sind so fürsorglich«, sagte sie, beobachtete, wie sich der überraschte Schmerz in seinen Augen in Lust verwandelte. »Nun, Georges. Würden Sie bitte für mich bestellen? Wir sitzen schon so lange hier, und ich habe inzwischen richtig Appetit.«
Kapitel 5
∞
L éonie und Anatole wurden im ersten Stock der Bar Romain in ein Séparée mit Blick auf die Straße geführt.
Léonie gab Anatole sein Jackett zurück, dann ging sie in den angrenzenden Waschraum, wo sie sich Gesicht und Hände wusch und das Haar in Ordnung brachte. Ihr Kleid würde zwar von ihrem Dienstmädchen geflickt werden müssen, aber nachdem sie den Saum festgesteckt hatte, sah es fast wieder respektabel aus.
Sie musterte sich im Spiegel. Von der abendlichen Hast durch die Pariser Straßen glühte ihre Haut, und ihre smaragdgrünen Augen strahlten hell im Licht der Kerzen. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, malte Léonie sich das Geschehen im Geist bereits in leuchtenden, kühnen Farben aus, wie eine Geschichte. Schon hatte sie den Hass auf den Gesichtern der Männer vergessen, ihr eigenes Entsetzen.
Anatole bestellte zwei Gläser Madeira, gefolgt von Rotwein, der zu einem schlichten Mahl, bestehend aus Lammkoteletts und Sahnekartoffeln, serviert wurde.
»Danach gibt es Birnensoufflé, falls du noch Hunger hast«, sagte er und entließ den
garçon.
Während sie aßen, schilderte Léonie ihm die Ereignisse bis zu dem Augenblick, als Anatole sie gefunden hatte.
»Diese
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sind ein seltsamer Haufen«, sagte Anatole. »Auf französischem Boden sollte nur französische Musik aufgeführt werden, das ist ihr Ziel. 1861 haben sie schon mit ihren Störaktionen die Absetzung von
Tannhäuser
erzwungen.« Er zuckte die Achseln. »Alle Welt glaubt, es geht ihnen überhaupt nicht um die Musik.«
»Worum denn dann?«
»Chauvinismus, schlicht und ergreifend.«
Anatole schob seinen Stuhl vom Tisch zurück, streckte seine langen, schlanken Beine aus und zog sein Zigarettenetui aus der Westentasche. »Paris wird Wagner wohl nicht mehr willkommen heißen. Jetzt nicht mehr.«
Léonie überlegte kurz. »Warum hat Achille dir die Opernkarten geschenkt? Er ist doch ein glühender Verehrer von Monsieur Wagner,
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