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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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oder?«
    »War«, sagte Anatole und klopfte die Zigarette auf den Silberdeckel, um den Tabak zu festigen, »aber nicht mehr.« Er griff in seine Jackentasche, holte ein Päckchen Wachsstreichhölzer hervor und zündete eins an. »›Ein schöner Sonnenuntergang, der irrtümlich für eine wunderbare Morgendämmerung gehalten wurde‹, das ist Achilles jüngste Äußerung zu Wagner.« Er tippte sich mit einem leicht spöttischen Lächeln an den Kopf. »Verzeihung,
Claude
-Achille, wie er jetzt genannt werden möchte.«
    Debussy, ein genialer, wenn auch unsteter Pianist und Komponist, wohnte mit seinen Geschwistern und Eltern im selben Mietshaus wie die Verniers auf der Rue de Berlin. Er war das Enfant terrible des Konservatoriums und zugleich, wie man sich widerwillig eingestand, seine größte Hoffnung. In ihrem kleinen Freundeskreis wurde jedoch mehr über Debussys bewegtes Liebesleben gesprochen als über seinen wachsenden künstlerischen Ruhm. Die derzeitige Dame seines Herzens war die vierundzwanzigjährige Gabrielle Dupont.
    »Diesmal ist es was Ernstes«, vertraute Anatole ihr an. »Gaby hat Verständnis dafür, dass seine Musik an erster Stelle steht, was sie für ihn natürlich überaus attraktiv macht. Sie hat auch nichts dagegen, wenn er jeden Dienstag in die Salons von Maître Mallarmé verschwindet. Das tut ihm gut, denn er muss sich schließlich schon genug Klagen seitens der Académie anhören, wo man sein Genie einfach nicht versteht. Die sind da alle zu alt, zu dumm.«
    Léonie hob die Augenbrauen. »Meiner Ansicht nach hat sich Achille sein Unglück größtenteils selbst zuzuschreiben. Er legt sich rasch mit Leuten an, die ihn vielleicht unterstützen würden. Er ist zu scharfzüngig, zu schroff. Im Grunde gibt er sich allergrößte Mühe, mürrisch, ungehobelt und schwierig zu wirken.«
    Anatole rauchte und widersprach ihr nicht.
    »Und wenn ich unsere Freundschaft einmal außer acht lasse«, sprach sie weiter, während sie einen dritten Löffel Zucker in ihren Kaffee rührte, »muss ich zugeben, dass ich ein gewisses Verständnis für seine Kritiker habe. Für mich sind seine Kompositionen ein wenig diffus und unstrukturiert und, na ja … beunruhigend. Ziellos. Zu oft habe ich das Gefühl, nur darauf zu warten, dass sich die Melodie zu erkennen gibt. Als würde man unter Wasser zuhören.«
    Anatole lächelte. »Ha, darum geht es ja gerade. Debussy sagt, man muss die Idee der Tonarten ertränken. Er will mit seiner Musik die Verbindungen zwischen der materiellen und der spirituellen Welt ausloten, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, und so etwas lässt sich nicht auf herkömmliche Weise darstellen.«
    Léonie verzog das Gesicht. »Das klingt wie einer dieser klugen Sätze, die absolut nichts bedeuten!«
    Anatole überging die Unterbrechung. »Er glaubt, Anregung, Andeutung und Nuancierung sind stärker, wahrhaftiger und erhellender als Aussage und Beschreibung. Dass der Wert und die Macht ferner Erinnerungen die des bewussten, expliziten Gedankens weit übersteigen.«
    Léonie grinste. Sie bewunderte die Loyalität, die ihr Bruder seinem Freund entgegenbrachte, aber ihr war klar, dass er lediglich die Sätze wortwörtlich wiederholte, die er zuvor aus Achilles Mund gehört hatte. Trotz Anatoles leidenschaftlichen Plädoyers für die Arbeit seines Freundes wusste sie sehr wohl, dass Offenbach und das Orchester der Folies Bergère eher seinem musikalischen Geschmack entsprachen als irgendein Werk von Debussy oder Dukas oder einem ihrer Konservatoriumsfreunde.
    »Wo wir gerade Geheimnisse austauschen«, fügte er hinzu, »ich war letzte Woche doch wieder in der Rue de la Chaussée d’Antin und habe eine Ausgabe von Achilles
Cinq Poèmes
erstanden.«
    Léonies Augen blitzten erzürnt. »Anatole, du hast M’man dein Wort gegeben.«
    Er zuckte die Achseln. »Ich weiß, aber ich konnte nicht widerstehen. Der Preis war so günstig, und es ist bestimmt eine gute Investition, da Bailly nur hundertfünfzig Exemplare gedruckt hat.«
    »Wir müssen sparsamer mit unserem Geld umgehen. M’man vertraut darauf, dass du klug wirtschaftest. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Schulden zu machen.« Sie zögerte, dann fragte sie: »Wie hoch sind eigentlich unsere Schulden?«
    Sie sahen sich in die Augen.
    »Wirklich, Léonie. Unsere Haushaltsfinanzen sind nichts, womit du dich befassen solltest.«
    »Aber …«
    »Aber nichts«, sagte er mit Nachdruck.
    Sie war eingeschnappt und drehte ihm den Rücken

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