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Die achte Karte

Die achte Karte

Titel: Die achte Karte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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die Kutsche um die Ecke bog, war Anatole, wie er den glimmenden Stummel seiner Zigarette in die Gosse schnippte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück in die Bar Romain.

Kapitel 6
    ∞
    D as Haus in der Rue de Berlin war still.
    Léonie schloss die Wohnungstür auf. Eine Öllampe war angelassen worden, damit sie ein wenig Licht hatte. Léonie legte den Schlüssel in die Porzellanschale neben dem silbernen Tablett für die Post, auf dem keinerlei Briefe oder Visitenkarten lagen. Während sie die Stola ihrer Mutter vom Kissen schob, ließ sie sich in den Dielensessel hineinsinken. Sie zog ihre schmutzigen Schuhe und Seidenstrümpfe aus, massierte sich die schmerzenden Zehen und dachte über Anatoles ausweichendes Verhalten nach. Falls er nichts getan hatte, wofür er sich schämen müsste, wieso nannte er ihr dann nicht den Grund für sein verspätetes Auftauchen in der Oper?
    Léonie blickte den Flur entlang und sah, dass die Tür ihrer Mutter geschlossen war. Dieses eine Mal war sie enttäuscht. Sie fand Marguerites Gesellschaft oft frustrierend, ihre Gesprächsthemen beschränkt und vorhersehbar. Aber heute Abend hätte ihr ein wenig Gesellschaft vor dem Schlafengehen gutgetan.
    Sie nahm die Lampe und ging in den Salon. Der geräumige, großzügige Raum nahm die gesamte Front des Hauses ein und bot Blick auf die Rue de Berlin. Die drei Fensterpaare waren geschlossen, doch die gelben Chintzvorhänge von der Decke bis zum Boden waren noch offen.
    Léonie stellte die Lampe auf den Tisch und schaute hinunter auf die verlassene Straße. Plötzlich merkte sie, dass sie völlig durchgefroren war.
    Sie dachte an Anatole, irgendwo in der Stadt, und hoffte, dass er in Sicherheit war.
    Nun endlich stiegen Gedanken in ihr hoch, was alles hätte passieren können. Die Hochstimmung, die sie den langen Abend hindurch getragen hatte, verflog, und sie fühlte sich verstört und ängstlich. Es war, als würde ihr ganzer Körper, jeder Muskel, alle Sinne von der Erinnerung an das Geschehen erfasst, dessen Zeugin sie geworden war.
    Blut und gebrochene Knochen und Hass.
    Léonie schloss die Augen, aber dennoch stürmte jedes einzelne Bild auf sie ein, so deutlich, als wäre es mit dem Klicken der Linse einer Boxkamera erfasst worden. Der Gestank, als die selbstgebastelten, mit Exkrementen und fauligem Obst gefüllten Bomben zerplatzten. Die starren Augen des Mannes, als das Messer in seine Brust fuhr, jener einzigartige lähmende Augenblick zwischen Leben und Tod.
    Über der Rückenlehne der Chaiselongue hing ein grünes Wolltuch. Sie legte es sich um die Schultern, drehte die Gaslampe herunter und kuschelte sich in ihren Lieblingssessel, die Beine unter den Körper gezogen.
    Plötzlich drang vom Stockwerk unter ihr Musik durch die Dielenbretter. Léonie lächelte. Achille saß wieder am Klavier. Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims.
    Nach Mitternacht.
    Léonie freute sich, dass sie nicht als Einzige in der Rue de Berlin noch wach war. Achilles Anwesenheit hatte etwas Beruhigendes an sich. Sie schmiegte sich tiefer in die Sesselpolster, als sie das Stück erkannte.
La Damoiselle Élue,
eine Komposition, von der Anatole gern behauptete, Debussy habe beim Schreiben an Léonie gedacht. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Wie Achille ihr selbst verraten hatte, war das Libretto die Prosafassung eines Gedichts von Rossetti, der wiederum von Monsieur Poes Gedicht
The Raven
inspiriert worden war. Aber so oder so, das Stück hatte einen Platz in ihrem Herzen, und seine ätherischen Akkorde passten vollkommen zu ihrer mitternächtlichen Stimmung.
    Ohne Vorwarnung senkte sich eine andere Erinnerung auf sie herab. Der Morgen der Beerdigung. Damals hatte Achille, so wie jetzt, endlos sein Klavier bearbeitet, und die Klänge der schwarzen und weißen Tasten waren durch die Dielenritzen gedrungen, bis Léonie glaubte, sein Geklimper würde sie noch in den Wahnsinn treiben. Das einzelne Palmenblatt, das in der Glasschüssel trieb. Das widerwärtige Aroma von Ritual und Tod, das sich in jede Ecke der Wohnung schlich, brennender Weihrauch und Kerzen, um die klebrige Süße der Leiche in dem geschlossenen Sarg zu überdecken.
    Du verwechselst das, was war, mit dem, was ist.
    Damals war Anatole an den meisten Tagen frühmorgens aus der Wohnung verschwunden, noch ehe das Licht der Welt wieder Gestalt gab. Abends kehrte er meist erst wieder heim, wenn sich alle im Haus schon längst zur Ruhe begeben hatten. Einmal blieb er eine Woche lang

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