Die achte Karte
zu. »Du behandelst mich wie ein Kind!«
Er lachte. »Wenn du verheiratet bist, kannst du deinen Mann mit Fragen nach eurem eigenen Haushaltsbudget zur Verzweiflung treiben, doch bis dahin … Aber weißt du was, ich gebe dir mein Wort, dass ich von nun an keinen Sou mehr ohne deine Erlaubnis ausgeben werde.«
»Jetzt machst du dich über mich lustig.«
»Genauer gesagt, nicht mal einen Centime«, neckte er.
Sie starrte ihn einen Moment finster an, dann gab sie nach. »Ich werde dich dran erinnern, darauf kannst du dich verlassen«, seufzte sie.
Anatole malte mit dem Finger ein Kreuz auf seine Brust. »Bei meiner Ehre.«
Einen Moment lang lächelten sie einander an, dann verschwand die Heiterkeit aus seinem Gesicht. Er griff über den Tisch und bedeckte ihre kleine weiße Hand mit der seinen.
»Jetzt mal im Ernst,
petite
«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich es mir selbst verzeihen soll, dass du den Tumult heute Abend wegen meiner Unpünktlichkeit allein durchstehen musstest. Kannst du mir vergeben?«
Léonie lächelte. »Schon vergessen.«
»Deine Großzügigkeit ist mehr, als ich verdiene. Und du hast dich sehr tapfer geschlagen. Die meisten Mädchen hätten den Kopf verloren. Ich bin stolz auf dich.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und zündete eine weitere Zigarette an. »Aber es könnte sein, dass der Abend dich noch länger verfolgt. Schockierende Erlebnisse schüttelt man nicht so leicht ab.«
»Ich bin kein Angsthase«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Sie fühlte sich rundum lebendig; größer, kühner, mehr sie selbst. Überhaupt nicht verstört.
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug die volle Stunde.
»Aber andererseits, Anatole, ich habe noch nie erlebt, dass du zu spät zu einer Aufführung gekommen bist.«
Anatole trank einen Schluck Cognac. »Irgendwann ist immer das erste Mal.«
Léonie kniff die Augen zusammen. »Was hat dich aufgehalten? Warum warst du zu spät?«
Er stellte das bauchige Glas bedächtig wieder auf den Tisch und zupfte dann an den gewichsten Spitzen seines Schnurrbarts.
Ein sicheres Zeichen dafür, dass er nicht ganz ehrlich ist.
Léonie musterte ihn forschend. »Anatole?«
»Ich war mit einem Kunden von auswärts verabredet. Er sollte um sechs kommen, traf aber um einiges später ein und blieb länger, als ich erwartet hatte.«
»Und trotzdem hattest du deinen Abendanzug dabei? Oder warst du noch zu Hause, bevor du ins Palais Garnier gekommen bist?«
»Ich war so umsichtig, meine Abendgarderobe mit ins Büro zu nehmen.«
Dann stand Anatole in einer raschen Bewegung auf, durchquerte den Raum und läutete die Glocke, womit die Unterhaltung schlagartig beendet war. Ehe Léonie noch mehr Fragen stellen konnte, erschien die Bedienung, um den Tisch abzuräumen, was jedes weitere Gespräch unmöglich machte.
»Zeit, dass du nach Hause kommst«, sagte er, fasste sie am Ellbogen und half ihr aufstehen. »Ich setz dich in eine Kutsche und begleiche dann die Rechnung.«
Augenblicke später standen sie draußen auf dem Trottoir.
»Warum kommst du nicht mit nach Hause?«
Anatole half ihr in eine Droschke und schloss den Verschlag. »Ich denke, ich schau noch bei Chez Frascati vorbei. Spiel vielleicht noch eine Runde Karten.«
Léonie spürte einen Anflug von Panik.
»Was soll ich M’man sagen?«
»Sie wird sich bereits zurückgezogen haben.«
»Und wenn nicht?«, wandte sie ein, um den Moment des Abschieds noch hinauszuzögern.
Er küsste ihre Hand. »Dann sag ihr, sie soll nicht auf mich warten.«
Anatole streckte den Arm aus und drückte dem Fahrer einen Geldschein in die Hand. »Rue de Berlin«, sagte er, trat dann zurück und schlug gegen die Kutsche. »Schlaf gut,
petite.
Wir sehen uns beim Frühstück.«
Die Peitsche knallte. Die Lampen schlugen gegen die Seiten des Gigs, das Zuggeschirr klirrte, und Hufeisen klapperten auf dem Pflaster, als die Pferde ruckartig anzogen. Léonie schob die Scheibe hinunter und beugte sich aus dem Fenster. Anatole stand in einem diesigen gelben Lichtkreis unter der zischenden Gaslampe, von seiner Zigarette kringelte sich ein weißer Rauchfaden nach oben.
Wieso will er mir nicht erzählen, warum er sich verspätet hat?
Sie sah ihn weiter an, wollte ihn nicht aus den Augen lassen, während die Droschke die Rue Caumartin hinabrumpelte, vorbei am Hotel Saint-Petersbourg, vorbei an Anatoles Alma Mater, dem Lycée Fontanes, und sich der Kreuzung mit der Rue Saint-Lazare näherte.
Das Letzte, was Léonie sah, ehe
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